Zerredet und zerdacht

Neulich sagte ich ihr, dass sie alles zerdenkt. Aber auch alles.

Was bewegt mich zu dieser Aussage?

Nach langer Zeit sind wir wieder gemeinsam unterwegs, zeigen uns wie wir sind in der Öffentlichkeit. Die Kameras sind dabei. Da bemerke ich an einer ihrer Kameras, dass das Vorspulen des Films nicht so funktioniert, wie es eigentlich sollte. Ich schaue sie an und in zwei große ängstliche Augen. Wir laufen jetzt seit einer Stunde hier ums Eck und wenn das Knipsen für die Katz war, dann kann es einem die Tränen in die Augen treiben. Bildlich gesprochen. Ich weiss, wenn die Kamera Zicken macht, dann am Anfang des Films. Also öffne ich die Rückseite und schau hinein. Und in ihr Gesicht. Ihre Augen werden größer und feuchter. Irgendwie versuche ich die Situation zu retten, währenddessen zählt sie mir auf, welche Aufnahmen nun mehr alle Futsch sind. Mal kühl durchdacht: Der Film spult definitiv nicht vorwärts. Ob nun Deckel auf oder nicht, ca. dreißig Aufnahmen auf fast einer Stelle haben den Film um das zigfache überbelichtet. Ich fummle am Film und der Kamera rum, gebe sie ihr zurück und sage ihr, sie möge jetzt einfach drauflos legen und wir sehen nach dem Entwickeln, was aus dem Malheur zu retten ist.

Tage später, sie ist wieder fort in ihrem Leben und ich bin mit den Negativen allein. Sie liegen im Scanner und was sich auf dem Bildschirm abzeichnet ist einfach WOW. Der Anfang des Films ist aus Sicht der Standardfotografie futsch. Ich würde es als Anhäufung vieler Momente interpretieren. Kunst halt. Der Rest, unter Zeitdruck aus dem Bauch heraus geknipst, zeigt einen freundlich-lockeren Umgang mit den Objekten ihrer fotografischen Begierde. Kein Kopf ist dabei, der das Motiv brav steril in ein Regelkorsette zwängt. Und es kommt zu dieser legendären Nachricht, dass sie aber auch alles zerdenken kann. Sie kann also auch anders, wenn sie will. Wenn sie möchte. Das Wort „Zerdenken“ ist nicht neu, nicht von mir erfunden und wie es scheint, ist es weit verbreitet. Ich finde dieses schöne Zitat:

„Etwas zu zerdenken hat mich persönlich zumindest noch nie zum Ziel geführt. Auch wenn du denkst und denkst und sich plötzlich negative Emotionen auftun, bist du auf dem besten Weg dazu, dein Problem zu zerdenken.“

Zerdenken scheint mit dem Zerreden eng verwandt zu sein. Es ist ein Spiel, ein lästiges Spiel. Sprache ist eine Waffe. Damit meine ich nicht nur aggressive Worte, Beleidigungen und was weiss ich noch alles. Selbst lieb gemeinte Worte haben eine zerstörerische Wirkung, vergleichbar mit der Lüge. Oder wenn da Gedanken sind, das Gefühl aufkommt, mit Worten außer Acht gelassen, verfolgt und gar überwacht zu werden. Irgendwann häuft sich das Zerdenken und Zerreden derart vor den Karren auf, dass es Schmerz geben wird, noch mehr Schmerz, und dabei ist er jetzt schon unerträglich. Jeder Schmerz ist ein Schatten und sie werden bei all dem erdrückenden Licht nicht weniger. Mittlerweile brauche ich nur noch im richtigen Moment an die negativen Dinge denken und schon ist der Kampf mit den Zweifeln eröffnet.

Mir fehlt echt der Glauben an eine „bessere“ Zeit. Ich habe schon so viel über bessere Zeiten gehört und kaum eine solche erlebt. Es gibt ein besser. Doch besser bedeutet nie ein Besser für alle. Die Werbung möchte mir weiß machen, dass mir ein Styling-Berater Klamotten raussucht. Kleider machen einen besseren Menschen aus mir. Äußerlichkeiten. Alles ohne Servicekosten. Wie heißt der Bot? Und „Ohne Servicekosten“ wollen auch erwirtschaftet werden. Es wird geredet. Viel. Und geglaubt an die vielen schönen Wort. Wer nicht daran glaubt oder nicht mehr daran glauben kann, der schaltet auf Durchzug. Ich meine: Der Grund für das ständige Reden ist wie das laute Schreien des Nachts im Wald: Angst! Reden bewegt nichts. Es besänftigt lediglich das eigene schlechte Gewissen, zumindest verbal alles erdenklich Mögliche getan zu haben. Und doch gibt es dann noch den einen Moment, wo ein Wort Licht ins Dunkle bringt, die getrübte Seele erhellt. Doch Schatten liegen hinter dem Licht. Denn mittlerweile bin ich um Meilen enteilt und sie merkt es nicht. Ich frage mich: Wozu bist du da? Wozu bist du gut?

Diskussionen um Worte. Nein, ich meine nicht die bösen, politisch inkorrekten Worte. Ich meine die Worte, die jeden und nichts berücksichtigen sollen. Diese Diskussion, sie ist so unnütz wie ein Nicer Dicer Quick. Wie alles von Nicer Dicer. Ich schneide mit dem Messer klassisch vor, um dann mit diesem überteuert lieblosen Kunststoffkram gleichmäßige Obst- und Gemüsewürfel im Salat oder in der Pfanne zu haben. Fass mal dem Scheißteil in die Klinge und du weißt, wie gefährlich menschliche Bequemlichkeit ist. Nimm zwei individuelle Persönlichkeiten mit gleicher Ausprägung und du hast eine für den Gutmenschen schützenswerte Minderheit an der Backe. Klebt die Dummheit wie Hundescheisse am Schuhhacken des Volkes, ist es schwer sie wieder loszuwerden, ohne sich dabei auch noch übergeben zu müssen. Neulich lese ich Strahlemann & Söhne. Vom Shutdown der deutschen Sprache gelähmt denke ich sofort an Strahlefrau & Töchter, allein der Gleichstellung wegen. Willkommen in der Semiapokalypse, weil sie wäre ja nur halb so schlimm. Soll ich dem geneigten Leser meinen letzten Gedanken des Tages verraten? Ich habe wieder einen Tag überlebt!

Neue deutsche Unlogik: Portrait-Aufnahmen von mir ja, aber mein Gesicht soll bitte nicht zu erkennen sein. Das macht Sinn, muss doch selbst das Halbwissen Wikipedia eingestehen, dass das Portrait häufig das Gesicht einer Person zeigt. Im übrigen schreibe ich bewusst Portrait und nicht Porträt. Ich kann nichts dafür, dass die weniger Sprachbegabten das Zepter führen. Ich sage nicht die elitäre Dummheit, was viel eher angebracht ist. Da ist ihr „Lebenspartner“ ein echter Segen, ein verbaler Segen ohne gültigen Praxistest. Das ist nicht gerecht, denn gerecht wäre immer nur allein mein Wille. Doch danach geht es nicht. Ich soll mich unter- und einordnen. Wir sind als Gutmenschen in unserer Meinungsfreiheit so frei, dass wir bloss kein Tabu brechen dürfen. Nur verbal. Mehr braucht es nicht, um heute zerrissen zu werden. Vielleicht schaue ich gerade zu oft „The Handmaid’s Tale“. Ein grausiges Szenario, zumindest die erste Staffel, die sich an das ausschlaggebende Buch hält. Danach setzt mehr und mehr der Weichspüler ein.

Und da ist wieder dieses Zerreden und Zerdenken in meinem Kopf. Die ersten Annäherungen und ersten Male, es hat etwas von der „Zeremonie“. Was wurde darüber geredet, unbegreiflich. Alles andere genauso, frei nach dem Motto: „Weniger Zucker, dafür viel Süßstoff!“. Was hat eigentlich Einkaufen mit Spass zu tun? Immer wieder fliegen mir Namen um die Ohren, gekoppelt mit dem Begriff Star. Vielleicht eine Hinterhofgröße, aber bitte kein Star! Es ist so vieles fern jeder Realität. In der Realität sehe ich für mich das Unumstössliche. Daran komme ich nicht vorbei. Doch darauf wird sich nicht eingelassen. Spielraumerweiterung mit Worten. Wenn ich die Diskussion um die Rücksichtnahme auf jeden Einzelnen höre (früher war es genau umgekehrt, aber das ist mittlerweile ja Diktatur), dann frage ich mich: Wie lautet die Einzahl multipler Welten? Spontan fällt mir Anarchie ein. Die Individualanarchie.

Ich schicke ihr ihre gescannten Negative und kommentiere den Unterschied zwischen den Aufnahmen ohne und mit Kopf. Es dauert nicht lange und sie erwidert, dass dieser „missglückte“ Film eigentlich gar keine so große Katastrophe ist. Die Quote liegt bei 34 von 37 möglichen Aufnahmen. Sie ordnet ihn später sogar als einen ihrer besten Filme ein. Gestern ganz weit unten, den Tränen nah und heute der fotografische Himmel voller Geigen. Zuviel Kopf macht einfach zuviel kaputt und es ist nicht das erste Mal, dass statt Handeln das Zerreden und Zerdenken zu einer explosive Mischung führt. Egal um was es geht, normal, menschlich oder zwischenmenschlich. Ohne eine Prise Gedankenmehl kommt das Räderwerk nicht ins Stocken. Es muss stocken. Es muss etwas Negatives dabei sein. Anders kann und darf es nicht sein.

Warum?

Autor: makkerrony

MakkerRony ist der Maker des einzigartigen, mehrfach prämierten und weltweit unbekannten Lichtbildprophet. Er ist eine Lichtgestalt der vornehmen Zurückhaltung und des gepflegten Dilettantismus.