Lebensqualität

Bis zu jenem ersten Samstag Anfang Mai 2016 meine ich dieses Wort ‚Lebensqualität‘ nie wahrgenommen zu haben. Es war ein Weißkittel, der mich wenige Stunden vor Beginn der Chemotherapie ‚offiziell‘ über meinen Gesundheitszustand aufklärte. Vom Februar bis eben hin zu diesem Tag im Mai bestand mein Wissen nur aus dem Rumgedruckse der Ärzte, Andeutungen und dem Lesen der immer offenen Arztbriefe. OK, da war noch der Operateur bei der Biopsie eines Lymphknoten. Kurze Zeit nach dem operativen Eingriff stand er mit seinem Doktoren-Geschwader vor meinem Luxus-Kassenpatient-Krankenbett und ließ mich wissen, dass es sich wohl um ‚malignes Lymphgewebe‘ handle. Der Rest der Meute schaut mich bedröppelt an und ich verstehe nur Bahnhof. Nicht weil ich es nicht verstehen will, die Narkose tut einfach noch ihre Wirkung.

Im Bett gegenüber liegt Schneewittchen. Er sieht eigentlich wie ein Frosch mit Minipli aus, liegt nur auf dem Rücken in seinem Krankenlager und schnarcht so laut, dass Ohrstöpsel nutzlos sind. Ihm wurde Fettgewebe aus der Halsgegend entfernt und selbst nach bekunden seines Weibes leidet er nun wie es nur Männer können. Nachdem die Ärzteschar das Vier-Mann-Zimmer verlassen haben, meint Schneewittchen zu mir: ‚So eine Diagnose möchte ich ja nicht haben.‘ Schön dass er wenigstens verstanden hat, was der Weißkittel mir gerade gesagt hat. Und wo wir schon beim Austausch unserer Leiden sind, meldet sich mein linker Bettnachbar: ‚Also ich kann ja so schwer atmen und lass mir deshalb die Nase operieren.‘ Mir platzt hier gleich der Kragen. Ich rapple mich auf und schlepp mich aus dem Zimmer. Irgendwer muss mir das Gesagte noch einmal erklären, für Dummies im Narkoserausch.

Dass es sich wirklich um Lymphdrüsenkrebs handelt erfahre ich über die kalte Küche. Am Anfang wurde mir gesagt, dass jeder neue Fall eines Krebspatienten im Tumor-Board besprochen wird und erst dann eine Behandlung startet. Nach der Biopsie und meiner Flucht aus dem Krankenhaus habe ich einen Termin in der HNO-Abteilung des Marzahner Unfallkrankenhauses. Nachkontrolle und wie es mit mir weiter geht: ‚Was wollen Sie hier. Ihre Unterlagen sind noch im Tumor-Board und das tagt erst am …‘. Das war die sensible und einfühlsame Offenlegung, von nun an ein registrierter Krebspatient zu sein. Interessanterweise fanden alle weiteren Arztgespräche nur noch mit Frauen statt. Die Herrn Doktoren flüchteten vor meinem Eintritt. Eine Ärztin meinte, ich sei eigentlich in der HNO völlig falsch. Hier wolle man nur operieren und sie, also ich, bin da der völlig falsche Fall.

Seit der Zeit im UKB sind vier Wochen vergangen. Warten, jeden Morgen anrufen, ob ein Bett frei ist. Schwesternstreik, Rückenmarkpunktion im ‚Abstellzimmer‘ der Station. Jetzt steht dieser Weißkittel vor mir und sagt all das, was ich mir bis zu dieser Stunde überwiegend zusammenreimen musste. Haben sich die HNOler geweigert das Wort Krebs in den Mund zu nehmen, weigert sich der Stationsobere ‚Heilung‘ zu sagen. Stattdessen bedient er sich der ‚Lebensqualität‘. Mir war und ist dieser Begriff noch heute zutiefst unsympathisch. Sagt man mir damit eine andere Welt voraus, dass es mit mir irgendwie weitergeht, aber nicht so wie vorher?! Aber wie, bitteschön? Seitdem das Thema intensiv aufgekommen ist, sind vielleicht drei Monate vergangen. Ich hatte nie Zeit darüber nachzudenken, was auch gut war. Bis zum Schluss wollte ich arbeiten, nutzte das Atelier um mich abzulenken und schon ein wenig zu verarbeiten.

Lebensqualität könnte ein Wort aus der Begriffswelt des Beamtendeutsch sein. Da ist eine Lebenssituation, die sich nun mal so ergeben hat und jetzt investiere ich Zeit, um danach womöglich viel Lebenszeit zu haben. Nur geht auf dem Weg dorthin einiges flöten. Immerhin wird für ein halbes Jahr die Regenerierung des Körpers ausgeschaltet. Im Nachhinein betrachtet sind ausfallende Haare das kleinste Übel. Ich schätze mich glücklich, dass ich die Therapie so gut durchgestanden habe. Gandalf der Weiße hat immer wieder betont, dass mit ‚BEACOPP eskaliert‘ die ganze Bandbreite und nur das Beste der Chemotherapie auf mich verschossen wird. War ich Anfang Mai froh, dass das Warten endlich ein Ende hat, so wuchs jeden Tag mehr diese gläserne Röhre der Vereinsamung um mich herum.

Schon vor der Krebsdiagnose muss es eine Lebensqualität gegeben haben, oder? Was blieb auf dem Weg zur Lebensqualität heute, zwei Jahre nach Abschluss der Chemotherapie? Ist mein Leben heute weniger ‚Wert‘? Ein scheußlicher Gedanken, wenn auch die Wertigkeit des Menschen und seines Lebens im Hochleistungszeitalter schon eine wichtige Kennzahl ist. Gesundheit? Ich denke hier dazugewonnen zu haben, denn die Alternative war klar der ‚überraschende und viel zu frühe Tod, womit ja niemand gerechnet hat‘. Ist es die Konfrontation mit dem eigenen Ableben, obwohl der Tod eigentlich zum Leben dazugehört? Sind es die Nebenwirkungen und Langzeitschäden, die verbrannte Erde in mir, die der Chemiecocktail im Inneren als Preis für ein Leben hinterlassen hat? Ich kann es nicht definieren. Wenn ich mich und mein Ich beschreiben soll, sehe ich den dicken Jungen in der Röhre. Ein absolutes Zufallsprodukt, wenn auch ein bisschen geplant.

Gefühlt nehme ich jeden Tag dieses Wort ‚Lebensqualität‘ wahr. Für mich ist es mittlerweile so ausgelatscht wie die Heilsbringer ‚Nachhaltigkeit‘, ‚Elektromobilität‘ und all die anderen verklärenden Umschreibungen unserer Zeit. Es gelingt uns nicht mehr die Realität beim Namen zu nennen. Für mich war die Diagnose keine ‚Schocknachricht‘ a la Qualitätsmedien. Ich hatte keine Zeit zum Nachdenken, vielmehr musste ich möglichst schnell meine Abneigung gegen Weißkittel ablegen, möchte ich überleben. Genauso musste ich lernen nicht an die Arbeit und das Ehrenamt, sondern ausschließlich an mich zu denken und viel Geduld zu haben. Und ich musste das, was mir partout nicht gut tut, aus meinem Leben streichen. Muss ich jetzt erwarten oder erfüllen können, dass das Geschehene unkommentiert ins persönliche Geschichtsbuch wandert, für immer abgehakt ist und es auf der Überholspur weitergeht?

Worin besteht nun meine Lebensqualität? Hier im Heute?

Ich bin froh, dass das Hodgkin Lymphom noch frühzeitig entdeckt wurde, wohl erfolgreich therapiert werden konnte und ich vor allem mit meinen Bildern weitermachen kann.
Ich bin froh, dass diese Art der Erfahrung sich genau so in meinen Bildern widerspiegelt, auch wenn ich nunmehr für ’normale‘ und ’schöne‘ Fotografien mit jungen barfüßigen Frauen nicht mehr geeignet bin.
Ich bin froh, dass ich in meinen Arbeiten heute mehr als früher Egoist bin und lieber auf ein Modell verzichte, dass mir seinen Willen aufzwingen will.
Insofern bin ich zufrieden, auch wenn ich allein bin, obwohl ich eigentlich nicht allein bin.
Ich bin zufrieden, obwohl mich jeden Tag die Nachwirkungen der Gürtelrose während der Chemotherapie an selbige erinnert und jeder Handgriff an den Hals ein Abtasten nach vergrößerten Lymphknoten ist.
Ich bin zufrieden, obwohl ich lieber nur schlafen, im Bett liegen könnte und jeder Arzt diese Hinweise bisher ignoriert.
Ich bin zufrieden, auch wenn ich mich nicht einer Selbsthilfegruppe anschließen möchte um meine Erfahrung zu teilen.
Ich bin froh jeden Morgen wach zu werden und die rote 04:44 auf dem Wecker neben mir zu sehen.
Und ich bin froh, dass trotz aller innerer Emotionslosigkeit es mir durch harte Arbeit gelingt kreativ tätig zu sein.
Ich bin zufrieden gelernt zu haben mir Zeit zu lassen, wo vielleicht keine Zeit mehr ist.

Drückt das Lebensqualität aus?

Autor: makkerrony

Der Blog 'Lichtbildprophet' ist dem fotografischen und gemalten Bild verpflichtet, erhebt keinen Anspruch auf Perfektion und ordnet sich selbst dem Dilettantischen Depressionismus zu.