NurStein

„Es ist doch nur ein Stein. Ein alter Ziegelstein, der entsorgt werden soll …“

Mich machen solche Aussagen nachdenklich. Beinahe beleidigt beziehe ich das Gesagte auf mich. Eben „nur“ und „alt“. Menschen entsorgen ist zur Zeit noch nicht politisch so korrekt. Kommt aber noch. Den ein möglicher Zwang zur Organspende und die Pflicht einen ID-Chip in sich tragen zu müssen, es ist nur eine Frage der Zeit bis die verbleibende Lebenszeit endgültig ein ausgeprägtes Lebensqualitätsmerkmal wird: Je älter du bist und deine Bereitschaft zur Notschlachtung verweigerst, umso mehr Niveaulimbo spielt man mit deiner Lebensqualität.

Steine.

Neben Bäumen offensichtlich ein Sujet, was mich verfolgt. Da sind die BetrachtSteine, Reste der „Villa Schaf“, die mittlerweile und Gott sei Dank Geschichte ist. Noch immer bin ich von „Erde, Himmel, Licht“ angetan. Was stecken in dem Objekt alles für Gedanken, Überlegungen, Experimente, Arbeit und Zeit drin. Mittlerweile hat die Arbeit einen anderen Besitzer gefunden, der mir, wenn sie an der vorgesehenen Stelle angebracht ist, ein Foto schicken wollte. Der Leser kann sich denken, worauf ich heute immer noch warte.

Ich bekomme eine Einladung, mich in den Resten eines Abrisses umzusehen. Neues Material für gelegentliche Basteleien. Heute schimpft sich das Upcyceln. Upcycling ist so etwas wie Eklektizismus, nur eben neudeutsch modern formuliert. Eklektisch? Wie unkreativ! Warum eigentlich? Der halbwegs mitdenkende Bildungsbürger stelle sich mal vor, die Natur hätte ihren Datenschutz, das Copyright und Betriebsgeheimnis. Wir Menschen wären ganz schön in den Arsch Hintern gefickt. „Gern bin ich Ideengeber, ungern eine Pausvorlage“ sagt der Evolutionsleugner.

In einem Haufen aus Schutt und Stein lächelt mich dieser eine Stein an. Er ist kein ganzer Ziegelstein mehr und seine Form ist etwas gebogen. Nicht jede Seite ist gerade und glatt. Die Oberfläche des Ziegelstein ist rissig und es ist eben nicht der Mörtel vom Mauern. Ich erinnere mich, dass ich solche Steine schon einmal gesehen habe. So sieht ein Ziegelstein aus, wenn er beim Brennen zu viel Hitze abbekommen hat. Später, wenn er gebrannt ist und dann Feuer sieht, zerbröselt er nur. Die Spuren sind jedoch beim Brennen in der Ziegelei entstanden.

Ich finde einen zweiten Stein. Er ist ganz, leicht gebogen, seine Oberfläche zeigt nur die Risse. Meine Gastgeber können für den Moment nicht meine Euphorie über den Fund teilen. Sie hatten sich bestimmt erhofft, dass ich ihre Steine schubkarrenweise vom Hof trage. Angesichts meiner begrenzten Lagermöglichkeiten im Atelier handeln wir einen bemerkenswerten Deal aus: Ich nehme meinen Erstfund mit und erhalte wenige Wochen später zu meinem Geburtstag den ganze Ziegelstein als Geschenk. So sei es verkündet und später auch geschehen. Nie zuvor bekam ich einen Ziegelstein geschenkt, erst recht nicht zum Geburtstag.

Beide Steine liegen einige Zeit im Atelier. Irgendwann greife ich den ersten der beiden und lege ihn über Nacht in eine Wachsoda-Lösung. Nach reichlichem Spülen und trocknen, überziehe ich die Oberfläche mit einer Schicht transparenten Epoxidharz. Damit glänzt er nicht nur, auch die zarten Farben treten nach dem Aushärten deutlich satter hervor.

Zwischenzeitlich hatte ich den Gedanken gehabt, die Oberfläche des Steins zu beklecksen. Doch ich nahm recht schnell wieder Abstand davon. Dieser Dreiviertel Teil eines Ziegelsteins, eigentlich Ausschuss, in manchen Augen wertlos und absolut nicht zu gebrauchen, fand dennoch eine Bestimmung in dem abgerissenen Bau. Jetzt, so kurz vor seiner Entsorgung, finde ich ihn und gebe ihm noch einen weiteren Sinn. Im Stil des Wabisabi ist es für mich ein Kunstobjekt so wie er jetzt ist: Absolut einzigartig!

Ich gebe dem Objekt den Namen „NurStein“: Es ist nur ein Stein. Der entsorgt gehört.

Jetzt steht er einfach in meinem Büro und wenn mir danach ist, dann kann ich ihn betrachten und berühren. Er lässt sich drehen, die Oberflächen kann ich ertasten und spüren, immer wieder Neues an ihm entdecken. Es wäre schön, wenn wir Menschen diese Art des Umgangs gegenseitig pflegen würden, statt uns täglich in den Kampf um die Besitzstandswahrung und nächsthöhere Komfortstufe zu begeben. Da verlange ich jetzt aber ein bisschen zu viel. Es ist doch eben nur ein Stein, um den es sich nicht lohnt eine derart sentimentale Gefühlsduselei zu betreiben.

Autor: makkerrony

Makkerrony, der Macher des Lichtbildprophet, ist ein bekennender Autodidakt, lebt in Berlin und geht seit mehr als zwanzig Jahren dem Hobby (Analog-)Fotografie nach. Sein Dilettantismus hat gereicht, in fünfzehn Jahre ca. 150 Artikel für Fotofachzeitschriften und vier Bücher, alles auf Papier gedruckt erschienen, zu schreiben. Ein Mensch behauptete mal, Makkerrony sei ein guter Fotograf, hat allerdings einen denkwürdigen Geschmack. Jemand anderes meinte, Makkerrony könne einen Haufen Hundescheisse fotografieren und es sehe gut aus. Ein Model lehnte die Arbeit mit dem Lichtbildprophet ab, weil seine Bilder so aussehen, als müsse sich das Model anstrengen.

2 Gedanken zu „NurStein“

  1. @ ZweifelnHochZwei: Ich denke das Übersehen hat zwei Gründe: Man lässt sich nicht Zeit dafür, weil es nur ein Stein ist … bei mir wurden aber Erinnerungen wach, dass ich so etwas kenne. Das hat die Neugier in mir geweckt, dem NurStein eine Chance zu geben. 😊

  2. Manchmal übersieht man die Schönheit mancher (teils einfacher) Dinge und das ist schade.
    Ein wirklich sehr schöner Stein … ich hätte nicht gedacht, dass so viel Potential in ihm steckt.

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