Sechs Monate sind rum, der nächste Check bei Gandalf steht an.
Nach meinem letzten Besuch im August des vorherigen Jahres wollte ich auf weitere Kontrolltermine verzichten. Ich fühle mich einfach nicht verstanden. Zum einen kann ich das, was ich als ‚Nachwirkung‘ der Chemotherapie beschreibe, nicht in klare Worte fassen. Wenn es mir dann doch irgendwie gelingt, bekomme ich zu hören, dass das nicht sein kann. Ich bin doch schon soooo lange raus. Diese Meinung greift bis in den engsten Kreis über. Die Äußerung sitzt. Bin ich etwa zur Pussy gereift?
Suche ich nach anderen Erfahrungen rund um das Leben nach Hodgkin und Beacopp eskaliert, wundern mich meine eigenen Erfahrungen kein bisschen. Denn selbst Studien und Ratgeber von Kliniken beschreiben Langzeitfolgen noch nach Jahren als existent. Die Krönung ist die fifty fifty-Chance von Fatigue, Schlafstörungen, Nervenstörungen & Co. heimgesucht zu werden. Was soll also das kategorische Ablehnen meiner Eindrücke und Wahrnehmungen?
Im August 2019 bekam ich einen Überweisungsschein für den Neurologen. Taubheit, Schmerzempfinden, Empfindungsstörungen geben Anlass dazu. Ist es vielleicht sogar Zucker? Ich soll meinen Hausarzt mit einbinden. Dummerweise bin ich dem Typen im Weißkittel völlig egal. Nach seiner Meinung wird das Hodgkin Lymphom immer operativ behandelt. Als er das sagte, hielt ich dagegen und meinte, dass die anerkannte Therapie die Chemotherapie und/oder Bestrahlung sei und lediglich zur Biopsie operiert wird. Es gibt nur eine Ausnahme von der Regel. Er warf mir einen bösen Blick zu und seitdem sind wir beste Feinde. Dummerweise ist Marzahn mit freien Hausärzten dünn gesät, was einen Hausarztwechsel unmöglich macht. Und bitte keine Tipps, dass es hier und da noch aufnahmewillige Hausärzte gibt. Ich mache keine halbe Weltreise für ein Quartalsrezept und vielleicht einen Krankenschein bei hammerharten Männerschnupfen.
Mit ‚Beziehung‘ gelingt es einen Neurologen-Termin Ende Februar in Berlin-Buch zu bekommen. Anfang diesen Jahres sind die Symptome soweit zurückgegangen, dass ich den Termin nicht wahrnehmen werde. Es gibt sicherlich andere, die einen freien Termin dringender brauchen als ich. Außerdem habe ich mich für einen Strategiewechsel entschieden. ‚Ich will doch nur, dass es dir gut geht‘ waren im August Gandalfs Worte. Wenn das seinem Wunsch entspricht, dann wird es mir heute bei seiner Befragung gut gehen. Damit bin ich zwar meine Probleme nicht los, aber ich habe meine Ruhe, ich rege mich nicht über sein ‚es müsste anders sein‘ auf.
‚Wie geht es dir‘ fragt er mich. Ich schaue aus dem Fenster und mir fällt – warum auch immer – _paamii ein. Dieser Gedanke ist so verdammt nah, unerwartet klar und erzwingt Traurigkeit in mir. Diese Räume hier, sechs Monate lang habe ich in ihnen meine Zyklen absolviert, habe das Elend der anderen Patienten gesehen. Dieser Geruch in der Praxis ist so eigenartig, festgebrannt in meinem Gedächtnis und belastet mich. Hin und wieder zieht der Duft des Burgerbräters an der Nase vorbei, der unter der Praxis residiert. Oft habe ich mir gewünscht statt der Infusion einen Burger essen zu wollen und ihn vor allem auch genießen zu können.
‚Ja, ich denke mir geht es gut. Was soll ich auch anderes sagen, ich muss mich mit meiner Situation arrangieren.‘ Kurz bin ich am überlegen hinterher zu schieben, dass ich am Leben bin und weitermachen kann. Doch ich verzichte darauf, finde den Einwand so unpassend. Eigentlich habe ich erwartet, dass Gandalf mich auf den Neurologen anspricht. Stattdessen beginnt er wieder mit einer Kontrolle und dem PET/CT. ‚Da haben wir eine Abmachung getroffen: Wenn irgendetwas nicht stimmt, dann wird ein PET/CT gemacht. Ich habe nichts Alarmierendes an mir entdeckt, folglich kein PET/CT.‘ Ein aktuelles Blutbild wird folgen und hoffentlich so ausfallen, dass keine Alarmglocken schrillen müssen.
Noch immer nichts zum Neurologen. Ich ergreife die Initiative: ‚Eigentlich sollte ich zum Neurologen. Das ging nicht, weil ich erst Ende Februar einen Termin habe. Da die Symptome weg sind, gehe ich da nicht hin.‘ Gandalf guckt mich an und sagt ‚OK!‘ Er hakt weiter Buchstaben in die Tastatur. Ich hätte jetzt mehr Widerstand erwartet, hat er doch im August ziemlichen Druck aufgebaut. Den tut er jetzt mit einem unmotivierten OK ab? Gänzlich verschwunden sind die Symptome nicht. Ich erzähle ihm von den spontanen Muskelkrämpfen. Er sortiert sie als normal ein und ordnet sie einem verabreichten Medikament zu. Wenigstens muss ich mir nicht anhören, ich solle mehr Trinken oder Magnesium einwerfen.
Nicht nur der Kopf, auch die Nerven haben durch die Chemo einen Schuß wegbekommen. Ich habe keine Kraft mehr um diese Anerkennung zu kämpfen. Gandalf bringt den Herpes Zoster zur Mitte der Chemotherapie auf die Tagesordnung. Mit seinen Nachwirkungen führe ich noch heute einen stillen Kampf, jeden Tag als ständige Mahnung an die Zeit hier in dieser Praxis. War es so gut die Therapie ambulant durchzuführen? Ich könnte mir vorstellen, dass die Chemo im Klinikum anders verlaufen wäre. Vielleicht sogar mit einer anderen Nachsorge. Nur war das Elend auf Station um Längen größer, nicht nur zu sehen sondern auch zu hören, als hier in dieser Praxis. Im Nachhinein ist der Zweifel immer größer als im Moment der Entscheidung.
Ich verabschiede mich von Gandalf. Es war eine kurze Visite. Vielleicht die kürzeste in unserer Arzt-Patient-Zweckgemeinschaft. Blutabnahme, Port spülen und brav den Schwestern auf Wiedersehen sagen. Über die Betreuung hier kann ich mich nicht beschweren. Es war besser für mich und mein Gleichgewicht die Chemotherapie ambulant durchzuführen. Keine Frage. Ich möchte mein Gastspiel dennoch möglichst schnell beenden, die 5 Jahresgrenze erreichen und zu den Langzeitüberlebenden zählen, mir zum krönenden Abschied den Port entfernen lassen. Alles andere ergibt keinen Sinn. Ich kann es nicht in Worte fassen und es wird wohl auch nicht verstanden. Nicht die Diagnose Krebs oder Chemotherapie, das Leben danach ist das Schwierige an der Krebserkrankung.