Seit fünf Monaten bemühe ich mich zu normalisieren. Die spürbaren Symptome der Chemococktails gehen zurück, die Einschränkungen werden weniger und beim Gewicht kämpfe ich mich auf die alte Größe zurück. Alles könnte so herrlich rosa und wundervoll sein, wäre da nicht der Kopf!
Anfänglich habe ich befürchtet zum Warmduscher und Weichei zu mutieren. Doch genau das Gegenteil ist eingetreten. Locker fluffig war es mir ein Bedürfnis so genannte Freunde abzuschießen, die mich scheinbar für einen Deppen halten, nur weil sie mir mit viel Augen klimpern erzählen wie schwer und hart ihr Leben ist. Zumindest in einem Fall bin ich mir sicher, dass das harte Leben durch einige Betten ging. Mein Gedanke, beim nächsten Handschlag sofort mit Sagrotan zu desinfizieren liess sich nicht mehr unterdrücken. Ich zog alle digitalen Register, diese Person zu löschen und zu blockieren.
Andere Zeitgeister wurden lediglich entfernt. Schrieben sie mich an, fragte ich erst einmal nach, wer da ist. Antworteten sie, gab ich zum Besten, was ich von ihrer monate- bis jahrelangen Schweigepartie halte. Entweder reagiert die betroffene Gegenstelle mit betretenem Schweigen oder jede Menge Ausflüchte, vor allem wie wenig Zeit man hat und hart das Leben ist.
Notiz an den Leser: Wie es mir in dem letzten Jahr ging wissen die meisten nicht. Jedenfalls nicht von mir.
Ich möchte mich von Belanglosen trennen, ich möchte keine Zeit damit verschwenden mir anzuhören, wie hart und beschwerlich das Leben ist, weil man sich nach dem anstrengenden Job und der Familie von Party zu Party hangelt und durch das Berliner Nachtleben poppt. Solange diese Leute nicht selbst den Fehler in ihrem System finden, verzichte ich auf deren Anwesenheit und jedwede Kommunikation.
Ich baue die Reste des letzten Jahres ab. Zum Beispiel den Jahresurlaub, erst einmal etwas über zehn Werktage. Jeden Morgen wühle ich für ein bis zwei Stunden in meinem alten Leben. Ich sortiere aus, entscheide was weg kann und was bleiben darf. Jeden Tag kommt so mindestens ein Müllsack zusammen. Von dem, was bleiben darf, ordne ich eine neue Bedeutung zu. Es wird weiterverwertet. Neudeutsch nennt man es wohl upcycling. Die Tütenbilderreihe basiert auf dem Prinzip, die letzten Collagen auch.
Mir fällt auf: Ich kann das bewusste Zerstören der Bilder nicht lassen. Es scheint Tagesform abhängig zu sein. Genauso wenig bin ich daran interessiert, dass so etwas wie Perfektion aufkommt. Was entsteht soll dilettantisch anmuten und benutzt wirken. Kann ich überhaupt noch „normal“, also so kreativ arbeiten, dass die Masse Gefallen daran findet? Wenn ‚früher‘ meine Experimente ins Leere liefen und ich keine Erklärung für die Misserfolge wusste, dann habe ich mich hingesetzt und ‚Standard wie die Massen‘ gemacht. Daran erinnere ich mich jetzt.
Eine alte Dame ist im Atelier, ich möchte Standard machen. Ich möchte gucken, ob ich es noch kann und wie es sich anfühlt. Denn immer wieder sagt mir meine innere Stimme, dass sie bei dem was ich tue nichts fühlt. Ja, ich fühle mich innerlich leer an. Deshalb ist es wohl kein Problem für mich missliebig gewordenen Zeitgenossen zu sagen, was ich von ihrem Getue und Gehabe halte: Ihr dürft gerne oberflächlich und auf euch selbstbezogen sein, aber verschont mich bitte damit.
Beinahe ohne jedwede innere Regung verfotografiere ich einen Film. Irgendwo, ganz weit hinten sind die Regeln fürs Portraitieren nach Standard abgelegt. Ich denke nicht an ein Experiment, was ich vielleicht sonst getan hätte. Emotional kühl, innerlich abgestumpft. So fühle ich mich und das nicht erst seit gestern.
Film entwickeln, warten und ab in die Dunkelkammer. Mir schwebt eine Lithentwicklung vor, ich gebe mir drei Versuche. Für das Ziel sind die Ergebnisse in Ordnung. Lith-Abzüge sind halt ein Zufallsprodukt, mehr sagt mir meine innere Stimme nicht. ‚Normale‘ Abzüge, ein paar Bögen sind noch da. Pinselentwicklung, das hatte mir doch vorher immer etwas gegeben. Im Hier und Heute sieht es etwas anders aus. Es fehlt das gewisse innere Gefühl, die Spannung und Aufregung.
Bis zum letzten Blatt arbeite ich den Film ab. Die letzten Einstellungen, geschätzt an den bisherigen Parametern und der Abzug sitzt. Das macht mir Angst, ohne dass ich vor Angst zittere. Das ganze Wissen, die Fähig- und Fertigkeiten sind da, nur fehlt es diesem gewissen Etwas, was den Gang ins Atelier vor dem dritten Geburt-Tag so besonders hat gemacht.
Das Dumme ist: Mir fehlt diese gewisse Etwas, das Besondere, die Stimmung, die Lust und Laune genauso bei vielen anderen Dingen. Alles macht auf mich den Eindruck, als liefe es mechanisch ab, weil es so laufen muss. Es wäre schlimm, wenn es so wäre und für immer so bliebe.