Der Anruf

Ein seltsames Brummen durchbricht die Ruhe des Arbeitszimmers. Zudem zappelt irgendetwas in meiner Hosentasche. Es dauert bis ich registriere, dass die Geräuschkulisse meinem iPhone entspringt und es sich um einen Anruf handelt. Die Option „Lautlos“ heisst noch lange nicht, dass das Signalisieren einer Kontaktaufnahme ohne Laut erfolgt. Vielmehr sorgt ein Miniaturmotor mit Unwucht für jenes Brummen, das meine Aufmerksamkeit auf das mobile Multifunktionsgerät lenken soll. Eine banale technische Erfindung mit großer Wirkung.

Das Display verheisst nichts Gutes. Wenn mein Lektor mich zur Mittagsstunde anruft, dann gefällt ihm irgendetwas an meinem Text nicht. So bereite ich mich innerlich auf einen telefonischen Disput vor und öffne schon mal das Anfang der Woche hochgeladene Schriftgut. Ich nehme den Anruf an.

„Hallo Herr Dankert. Wenn sie mich um die Zeit anrufen, dann stimmt irgendetwas mit dem Text nicht und ich darf für sie nachbessern.“

„Hallo Marvin. Nein, so schlimm ist es nicht. Aber ich habe ihn mir mal angesehen und hätte da ein paar Anmerkungen.“

Das „nicht so schlimm“ ist gelogen. Ich weiss, was mich erwartet und es hat mit Arbeit zu tun. Was genau der Auslöser ist, werd ich gleich erfahren.

„Können sie nicht etwas ausführlicher über die Motivprogramme schreiben? Das ist mir zu wenig.“

Der Satz genügt und ich bin im Bilde. Warum auch immer wünscht sich der Verlag, dass ich jener Kameraautomatik ein Kapitel widme, indem die Fotografie ins Knipsen übergeht. Je nach Motivvorwahl wählt die Elektronik nach eigenem Ermessen Blende, Belichtungszeit, Empfindlichkeit aus und klappt bei Bedarf eigenmächtig den Blitz aus. Der Fotograf wird zum Kamerahalter degradiert, muss nur noch sein Motiv anvisieren und den Auslöser betätigen. Es klingt nach „Heile Welt“-Fotografie, der ich persönlich nichts abgewinnen kann. Diese Abneigung schlägt sich offenbar in meinem Motivprogramme-Kapitel nieder.

„Man kann doch da …“ und bevor der Satz in seine Vollendung geht, muss ich meinem Lektor ins Wort fallen.

„Sie können nichts einstellen. Alles läuft vollautomatisch und die Kamera entscheidet, wann der Blitz benötigt wird. Und an dem können sie auch nichts ändern.“

„Das geht nicht?“

„Nein. Solche Motivprogramme sind sinnvoll, wenn es wirklich schnell gehen muss und die Szene zum Motivprogramm passt. Sowie es Abweichungen gibt, wird die Sache zum Lotteriespiel.“

„Aber das können sie dann doch in das Kapitel reinschreiben?“

„Ich habe geschrieben, welche Prioritäten die Elektronik bei ihrer Wahl der Kameraeinstellungen trifft. Das fiel mir schon schwer, immerhin kann der Kamerabesitzer dieselben Ausführungen im Handbuch nachlesen. Eigentlich wollte ich es ja vermeiden, das Handbuch abzupinseln. Aber mir fällt nicht mehr zu dem Kapitel ein. Unter uns: Ein Abschnitt in einem Kapitel „Automaten-Fotografie“ genügt.“

Mein Lektor ist so ein Macher-Typ, den ich mir gut als meinen Agenten vorstellen könnte. Vom Fotografieren mit Blitzlicht scheint er dagegen wenig zu verstehen. Anders konnte ich mir die Ruhephase am anderen Ende der drahtlosen Leitung nicht erklären.

„Ich kann die Kameraautomatik doch so einstellen, dass der Hintergrund heller in der Aufnahme zu sehen ist als bei normalen Blitzlicht. Schreiben sie doch etwas darüber!“

Ich kann seiner Argumentation nicht ganz folgen. Von welcher Automatik spricht er? Meint er das Pseudo-HDR? Das hat aber nichts mit dem Blitzen zu tun.

„Meinen Sie D-Lighting? Das hat nichts mit der Blitzlicht-Fotografie zu tun und ist eine reine Bilddatenverarbeitungsgeschichte.“

„Nein. Wenn ich meine Kinder mit dem Kamerablitz fotografiere, dann sind ihre Gesichter hell und alles im Hintergrund ist dunkel. Aber mit der einen Elektronikeinstellung geht es, dass der Blitz den Hintergrund auch heller macht.“

Jetzt wird unser Gespräch mystisch. Irgendeine Elektronik schafft es, heimlich das Blitzlicht am Vordergrund vorbei in den Hintergrund zu lenken und liefert perfekt ausgeleuchtete Bilder. Wie macht sie das? Eigentlich fühle ich mich mit einem gewissen physikalischen Grundwissen ausgestattet und tue dennoch die gehörten Ausführungen zur Wunderelektronik noch nicht ins Reich der fantastischen Phänomene ab. Ein Ingenieur muss bekannte Dinge in Frage stellen können und neue Wege suchen. Ich tue es soeben.

„Wenn das Blitzlicht abgefeuert wird, dann kann es unter normalen Bedingungen nicht in den Hintergrund abgelenkt werden. Dafür gibt es keine Elektronik. Sie können nichts an den Gesetzmäßigkeiten der Lichtausbreitung ändern.“

„Aber es muss dafür eine Elektronik geben, die den Hintergrund aufhellt. Das habe ich gelesen, aber noch nicht selbst ausprobiert.“

In mir fängt es an zu kochen. Immer wenn etwas unerklärlich wird, kommt die geheimnisvoll wundertätige Elektronik zum Zug. Propagandistisch betrachtet ist die Digitalfotografie easy und alles regelt sich auf Knopfdruck. Soweit so gut. Wenn jedoch das Automatenknipsen ins Reich der Kreativität geschoben wird, dann hört der Spaß bei mir auf. Die telefonische Kommunikation zwischen meinem Lektor und mir entwickelt sich in diese Richtung.

„Es geht auch so, ganz ohne Elektronik. Die braucht man dafür überhaupt nicht!“

Es folgt Schweigen, das ich nach ein paar Sekunden der Ruhe unterbreche.

„Egal ob digital oder analog, mit oder ohne Elektronik. Die Belichtung der Aufnahme wird durch die Zeit, Blende und Empfindlichkeit beeinflusst. Was die ganzen Automatiken tun ist nichts weiter, als mit bestimmten Kombinationen zu arbeiten, wie man sie für bestimmte Motive eben nutzt.“

„Und wie mache ich es dann mit dem helleren Hintergrund?“

„Belichtungszeit verlängern. Durch den Blitzimpuls wird das Vordergrundmotiv eingefangen, danach belichtet das Restlicht den Hintergrund. Jetzt können wir darüber philosophieren, ob der Blitz auf den ersten oder zweiten Vorhang mehr Sinn macht. Aber das würde ich von der Szene und den Lichtverhältnissen abhängig machen.“

„Dann schreiben sie doch das ins Kapitel rein!“

Ich gewinne den Eindruck, mich in einem telefonischen Verkaufsgesprächs zu befinden: Während ich versuche dem Händler begreiflich zu machen, dass ich nichts kaufen möchte, bietet er mir solange seine Ware penetrant beharrlich an, bis ich ihm irgendetwas abnehme. Er möchte das Gespräch mit wenigstens einem Eurocent Gewinn tätigen und nach dem Auflegen innerlich über mich triumphieren. Das kann und darf ich nicht zulassen.

„Was soll ich schreiben, wenn der Fotograf nichts ändern kann? Die Kamera macht was sie will. Sie müssen sie nur halten und den Auslöser betätigen. In meinen Augen hat das nichts mit Fotografie zu tun.“

„Der Blitz lässt sich auch nicht ändern?“

Vorsichtshalber schaue ich noch einmal in einem Kamerahandbuch nach und erwidere nach kurzer Zeit: „Nein, vollautomatisch!“

Eigentlich könnte ich mit der jetzigen Situation zufrieden sein. Meinen Standpunkt bin ich treu geblieben, musste keinen Meter Boden aufgeben. Trotzdem spüre ich eine gewisse Spannung in der Luft, ein Mix aus Verzweiflung, Angst und unbefriedigtes Verlangen. Es wird ein paar Wochen dauern, bis sich mir der Blick hinter die Kulissen öffnet.

Ohne in dem Moment die Konsequenzen wirklich abschätzen zu können, ist unser Telefonat mein persönlicher Abschied. Nicht vom Lektor, sondern vom Wettrüsten der Kamerahersteller. Ich dachte immer, Technik soll dem Menschen das Leben leichter machen. Nun muss ich feststellen, dass wir immer mehr zum Sklaven mutieren und die Ergebnisse zur hohen Kunst erklären. Irgendetwas stimmt da nicht. Entweder ist mein Blickwinkel falsch oder die Masse ist bereits so eingelullt, dass sie den Knall nicht gehört hat.

Wir tauschen noch ein paar Nettigkeiten aus. Sie ändern nichts daran, dass das Fundament unserer geschäftlichen Zusammenarbeit einen gewaltigen Riss bekommen hat. Schwere Krisen schweißen Menschen zusammen, Banalitäten treiben sie auseinander. Unser Telefonat ist ein Musterbeispiel dafür.

Autor: makkerrony

Der Macher des Lichtbildprophet ist ein bekennender Autodidakt, lebt in Berlin und geht seit mehr als zwanzig Jahren dem Hobby (Analog-)Fotografie nach. Sein Dilettantismus hat gereicht, in fünfzehn Jahre ca. 150 Artikel für Fotofachzeitschriften und vier Bücher, alles auf Papier gedruckt erschienen, zu schreiben.