Perfekt!

Ich lese eine Buchrezension. Warum beschleicht mich das ungute Gefühl, dass der Rezensent seine eigenen Werke als das Nonplusultra zu betrachten scheint und alles andere daran zunichte macht. Ich kenne ein paar Bücher des Rezensenten und finde sie zutiefst langweilig. Ohne Zweifel erklärt er viel, zeigt Beispiele und trotzdem wirken seine Erklärungsversuche an den Haaren herbeigezogen. Vielleicht bin ich auch nur zu blöd, den Tiefgang seines Geschriebenen zu erkennen.

Das Sahnehäubchen der Kritik ist seine Erwartung, Rezepte für das perfekte Foto zu erwarten. Da ist es, das Wort was ich hasse: Perfekt! Zwar betont der Buchautor, dass es ihm nicht genau darum geht, doch Herr Rezensent reitet wie angestochen auf seiner perfekten Welle weiter. Diese Schere aus der Absicht des Autors und der Erwartungshaltung des Lesers kenne ich zu genüge. Schreibe ich einmal, worauf es mir ankommt, nörgeln die Schnellleser es nicht gelesen zu haben. Betone ich es dagegen mehrmals, werden die ständigen Wiederholungen bemängelt, führen bis zum Punktabzug.

Gedanklicher Gewaltausbruch in Form eines väterlichen Backenklatschers!

Anti-Gewalt-Modus an und definiere perfekt!
Variante 1: Fehlerlos, ideal, vollendet, makellos, meisterhaft
Variante 2: Abgeschlossen, komplett, spruchreif, erledigt, abgemacht

Auf was bezieht sich nun der Rezensent? Die zweite Variante ist es sicherlich nicht. Trotz seiner Eigenliebe zum Selbstgeschriebenen muss er neidlos anerkennen dürfen, dass das rezensierte Buchprojekt sowie die darin enthaltenen Aufnahmen abgeschlossen, abgehakt, erledigt und was auch immer sind.

Steht also nur noch Variante 1 zur Disposition. Kleine Gegenfrage: Was ist perfekt und wenn etwas perfekt wäre, was käme danach?

Die Mona Lisa? Ohne jeden Zweifel wurde sie vom alten Leo meisterhaft gemalt. Glaubt man den historischen Quellen, hat er es wohl nie vollendet. Das widerspräche der perfekten zweiten Variante. Wäre das Bildnis der ollen Mona ideal, wieso hat der Mensch danach weiter gemalt und das eine oder andere Meisterwerk geschaffen?

Zeitlicher Aspekt. Just in dem damaligen Moment als vollendet betrachtet ist es sicherlich perfekt. Den Blick in die Zukunft gerichtet und andere Maltechniken wie Sichtweisen mit eingeschlossen, mutet die Wertung als überzogene Fehleinschätzung an.

Meilenstein der Malerei! Unterschiedliche Fluchtpunkte des Hintergrunds und der Portraitierten. Ein Meisterwerk, dass sich nicht an die ungeschriebenen Gesetze hält, kann nicht perfekt sein! Dazu kommt der Hauch eines von den Augenbrauen befreiten Silberblicks. Heute dieselbe Mona Lisa in einem Foto abgelichtet, würden 99,999% der Kamerahalter hemmungslos mit Photoshop nachbessern. Jedes Detail muss auf den Punkt sitzen, wie Haare mit Drei-Wetter-Taft vollgekleistert.

Ein scheußliches Wort: Sfumato, ein leichter weicher Nebel liegt um den Gemälde. Wieso nicht rattenscharf wie die Klinge eines Dalmaszener-Dolches? Leonardo macht alles anders, spielt bewusst mit Fehlern und Abnormitäten. Trotzdem zieht seine Mona Lisa noch heute die Menschen in ihren Bann. Ist mein ungeliebtes Perfekt genau das Gegenteil von ideal?

Ich drehe mich gedanklich im Kreis und versuche mir in den Schwanz zu beissen … wäre ich ein Hund mit langem Schwanz. Mir gelingt es nicht mit meinen Augen so scharf zu sehen, wie es mir viele Fotos suggerieren. Alles was außerhalb meines Fokus liegt ist unscharf verzeichnet. Nicht wie Gauß, sondern anders. Weiches geht nicht wie ein spitzes Messer auf mich zu. Ist damit knackscharf die moderne Sichtweise der heutigen Leonardos?

Ich ertappe mich dabei alles zu technisch zu sehen. Optische Gesetze, Projektion eines Abbilds auf dem Medium analoger oder digitaler Film. In meinem tiefsten Inneren mag ich es unlaut und bin selbst laut. In persönlicher Abwandlung einer Weisheit: Ruh stillt den See. Doch wer hat heute noch Ruhe, geschweige welche Frau stillt noch ihren Säugling? Es muss schnell gehen, das erfordert kurze prägnante Ansagen: Frau, notgeil, Beine auseinander und den Spott frontal in den Intimbereich gesetzt! Nur mal so als Beispiel.

Bitte ein jugendtaugliches Beispiel! Blick vom Hochhaus auf die Straße, Autos wie Menschen krepeln wie Ameisen zwischen Häuserschluchten herum, Tilt-shift am Computer, damit es wie eine Modelllandschaft aussieht!

Ein blödes Beispiel, doch viel mir vor kurzem ins Auge. Und weil es im schnellen Augenblick sofort erfassbar sein muss, beleidigt ein fast unendlich knapper Übergang zwischen scharf und unscharf das sensible Auge. Das ist Fotografie nach dem Kalaschnikow-Prinzip: Möglichst schnell möglichst viel raushauen, ohne Rücksicht auf Kollateralschäden. Warum auch? Die treue Fangemeinde springt sofort zur La Ola-Welle auf und geizt nicht mit Superlativen. Wie der Rezensent und seine perfekt zu befriedigende Erwartungshaltung.

Selbstkritik: Ich fasse mir an die eigene Nase!

“Hab ich mir heute schon gesagt, dass ich mich liebe?”

Davon hätte ich gerne eine Portion. Nicht zuviel, das wäre mir dann doch peinlich. Dazu bitte etwas Sauce vom Menü “Selbstbewusstsein” und in ein Extra-Schälchen “Abgebrühtheit”. Voila! Von jetzt an wird alles besser, wenn nicht sogar perfekt!

Jeden Wochentag sehe ich diesen stahlblauen Stahlschornstein. Immer wieder ergeben sich Szenen, die ich eigentlich im Bild festhalten möchte. Aber ich bin zu etwas anderem hier an diesem Ort. Und, mir fehlt die passende Kamera und manchmal auch die Lust. Also lasse ich es sein.

Das Wetter gibt sich wechselhaft, Wolken, Sonne und Regen. Wenn ich an meinem blauen Rohr vorbeigehe, schaue ich neidvoll an ihm hoch. Immer und immer wieder. Es scheint jetzt zu passen und ich fingere mein iPhone aus der Tasche. Nicht seine Größe macht mich in diesem Moment an. Das blaue Rohr soll klein zum Himmel sein und nichts von der Umgebung stören. Dieser Schornstein könnte überall stehen und ich fliege wie ein Vogel auf seinen Gipfel zu. Keine Gedanken an den Goldenen Schnitt und ob rechts oder links die gerade nicht rauchende Kuppe positioniert. Nur die Wolken müssen passen!

Es war die Stimmung, die mich gerade zum Knipsen verleitet hat. Ein kurzer Gedanke und so etwas wie eine Beziehung zwischen dem langen blauen Schornstein aus Stahl und mir. Es wäre für mich perfekt, wenn es immer so ideal ablaufen würde. Ohne großes Vorspiel, Liebe auf den ersten Blick und einfach nur abdrücken. Und doch ist es kein Meisterwerk, selbst für mich nicht. Keiner weiss vom Blau des Schornsteins, meinen täglichen Blicken zu ihm herauf und unserer Wochentagsbeziehung.

“Lass den Rezensenten gewähren. Er ist ein armer Tropf und kann nicht anders.” Wenn sein Perfekt in gequälten Beispielen liegt, dann sei es drum. Ich erinnere mich an einen Forumsbeitrag zum Thema Buchauswahl.

“Ich schaue mir immer erst an, was der Autor selbst zustande bringt und entscheide dann, ob ich mir sein Buch kaufe”. Mit solch einer Aussage kann auch ich leben. Zumindest was der Leser erwarten kann sollte damit geklärt sein. Eine perfekte Ausgangsbasis. Mehr und mehr gewinne ich den Eindruck, dass perfekt genauso subjektiv zunehmen ist wie schön, sehenswert und andere individuelle Beifallsbekundungen.

UPDATE
Wer Kritik üben möchte, sollte sich zuerst gangbare Alternativen überlegen!

Autor: Lichtbildprophet

Er ist kein Fotograf und doch malt er seine Bilder mit Licht, bringt sie in seiner Dunkelkammer eigenhändig zu Papier. Er ist kein Maler und doch zeichnet er seine Bilder mit Farben auf alles, was seine Imagination tragen kann.