Da war er. Dieser Druck in mir.
Die Zeit war ran, der Tag gekommen, der engmaschigen Überwachung gerecht zu werden. Da ich wusste, dass dann auch das Portspülung und Blutabnahme auf dem Programm steht, zog ich ein Hemd an. Ich trage sonst nie Hemd. Nur dann, wenn die Infusionstage der Chemo anstanden. Da war freier Zugang zum Port gewünscht. Der sitzt in der rechten Schulter. Ich hole das Hemd aus dem Schrank und verspüre in der Magengegend sofort einen Würgreiz. Das Stück Stoff ruft Erinnerungen hervor, die so nie waren. Übelkeit und Erbrechen waren während der Zeit Fremdworte für mich. Doch jetzt, ein Vierteljahr nach meinem letzten Besuch in der Praxis, haut es meinen Magen fast aus den Latschen.
Dieses Psychospiel habe ich geahnt. Vorsorglich habe ich meinen persönlichen Abgabetermin für ein Künstler-Portrait vorverlegt. Mein Mittelpunkt des Artikels hat glücklicherweise mitgespielt und auch die erste Reaktion aus der Redaktion war positiv. Es war nicht leicht nach über einem Jahr Schreibabstinenz einen Text zu verfassen, in dem es um Eindrücke, Emotionen und Fantasie geht. Wenn ich dagegen meine innerliche Eiszeit sehe, bin ich über das positive Feedback erstaunt. Vielleicht sollte ich intensiv darüber nachdenken, nach 17 Jahren – also vor der Volljährigkeit – meine Autorenperiode zu beendet. Schöner kann der Ausstieg mit einem Portrait über Anna Malina nicht enden.
Ich stehe vor dem Konsumtempel. Also bis vor einem Jahr war er nur der Konsumtempel für mich. Danach wurde er so etwas wie mein Zweitwohnsitz. Zumindest an vier Tagen in drei Wochen. Es wurden mehr Tage als gedacht, schlechte Blutwerte und manch anderer Kram sei Dank. Dennoch, ich habe mich hier aufgehoben und beachtet gefühlt. Die Treppen hoch zur Praxis sind komisch. Das war meine Teststrecke. Eigentlich nur eine Etage, doch der Höhe nach zu urteilen irgendetwas zwischen zweitem und dritten Stock. Ich klingle, erbitte Einlass. Warten.
Mein Name.
„Komm rein. Wie geht es dir?“
Es ist eine komischen Mischung aus Duzen und Siezen die der Doc pflegt. Ich habe nichts dagegen, bin nur unschlüssig, wie ich darauf reagieren soll. Beim letzten Besuch sind wir etwas aneinander geraten. Ich sah mich hinsichtlich der Beratung Wiedereingliederung, Reha und so weiter vernachlässigt. Der Doc sah es – erwartungsgemäß – etwas anders:
„Du musst hier die Fragen stellen. Ich mache nur was du mir sagst.“
„Entschuldigung, das ist mein erster Krebs. Beim nächsten bin ich etwas schlauer!“
Die Unstimmigkeit ist heute vergessen. Der Doc schaut ins Computerprogramm, fragt die B-Symptome ab. Ich kann verneinen: Gewicht verliere ich nur durch hartem Kampf und Nachtschweiss ist auch nicht. Dann und wann fasse ich an meinem Hals und spüre keine Schwellungen.
„Deine letzten Blutwerte sind Top!“
Im Gegenzug erzähle ich, dass die Nebenerscheinungen der Chemo in kleinen Schritten zurückgehen, ich mehr und mehr belastbar bin. Dem Rauchen konnte ich auch weiterhin widerstehen.
„Das ist auch viel gesünder!“
„Mit Verlaub: Ein Scheiß ist“ erwidere ich. „Ich habe jeden Tag einen Apfel gegessen, was ja auch so gesund sein soll und bin dennoch an Krebs erkrankt.“
Uns beiden entgleitet ein Lachen. Damals im Krankenhaus hatte ich eigentlich erwartet, dass man mir das Rauchen ausreden wolle. Aber nichts der gleichen geschah. Also sprach ich darauf eine Ärztin an. Sie meinte nur, dass das Rauchen während der Chemo nur dahingehend kritisch sei, dass durch das Rauchen verstärkt Sporen aufgesogen werden und diese für Lungenerkrankungen während der Phasen hoher Anfälligkeit verantwortlich sein können. Ich habe freiwillig, ohne irgendeinen Grund, das Rauchen aufgegeben. Sagen wir deshalb: Des Geldes wegen.
„Wann war dein letztes PET/CT? Ende November? Dann sehe ich dich Ende November und wir machen das nächste PET/CT!“
Damit habe ich nicht gerechnet. Ich bin eher davon ausgegangen, alle Vierteljahre zum Rapport antreten zu müssen.
„Willst du vorher noch einmal vorbeikommen?“
„Nein, nein. Wenn es nicht sein muss, dann nicht.“
Wirklich wohl fühle ich mich hier gerade nicht. Es ist Nachmittags und keine Chemopatienten zu sehen. Nur unverfängliche Laufkundschaft. Ich kann mich aufraffen und spreche jenen inneren Eispunkt an, Wesensänderung, Verbitterung oder was auch immer, die mich nun seit Monaten begleitet. Und an meinen Nerven zerrt. Es gibt für mich weder Freude, noch Leid, Spaß, Aufgewühltheit, Liebe.
Käme jemand auf mich zu und sagte: „Ich liebe dich“ und erwartet von mir die Erwiderung, ich müsste ihn so oder so anlügen. Ich weiß im Moment nicht ob ich Liebe empfinde oder nicht. Meine einzigste Hilfe in diesem Dilemma sind die emotionalen Erinnerungen von früher. Habe ich den Menschen geliebt oder könnte ich ihn vom Charakter und Aussehen her lieben? Was anderes gibt es nicht. Ich bin mittlerweile ratlos.
In der Zwischenzeit hat sich der Doc zurückgelehnt und hört zu. Seine freundliche Mimik hat er durch ein paar Stirnfalten ergänzt:
„Es ist nicht so, dass ich keine Freude am Leben habe. Ich fotografiere weiterhin, mache meine Kunst, doch fehlt es mir an der inneren Spannung. Alles ist irgendwie scheißegal.“
Er macht sich Notizen in seinem Computer. Wenn jemand Pate für die Phrase „einen Text in den Computer hacken“ stand, dann war es der Doc. Abschließend gibt er mir den Tipp, den ich erwartet und befürchtet habe: „Such dir einen Psychologen!“.
Ich fühl mich dafür nicht bereit. Aus Gründen. Mein letztes Psychologengespräch handelte über die tödliche Dosierung eines Psycho-Medikaments. Das fiel der Psychologin selbst auf und unsere Unterhaltung endete damit, dass sie beteuerte zum erste Mal mit einem Patienten über diese konkreten Zahlen gesprochen zu haben. Und wenn ich mich wieder in die Fänge dieser Ärzte begebe, befürchte ich ähnliche Katastrophen. Bis Ende November bleibt für mich das kleinere Übel abzuwiegen: Nimmt mich ein Psychologe auseinander, findet ein paar Leichen die er mir serviert oder lehne ich mit allen Konsequenzen Zeitverschwendung und Kompromisse aufgrund von Bequemlichkeit ab.
Zurück im Atelier. Ich bin für mich allein. Die letzte Zeit habe ich damit verbracht, alte Sachen durchzuschauen und Dinge zum Finale zu bringen. Das bedeutet nicht unbedingt eine neue Arbeit. Manches wandert auch direkt in den Papierkorb. Hier und da sprüht der Gedanke auf, es so oder anders zu probieren. Ich tue mich schwer die Dinge zu bewerten. Wo ich mir ein Feedback erhoffe, da kommt keins. Wahrscheinlich war meine Erwartungshaltung zu hoch und ich bin nur das, was ich in meiner miesepetrigen Art ohnehin schon vermutet habe: Mittel zum Zweck.
Ich bediene mich des Gradmessers Soziale Medien. Vor der Therapie hat mir Artstack sehr gut gefallen. Doch die haben nach einer mehrmonatigen Testphase die Hosen heruntergelassen: Bezahldienste! Die Alternative deutsche Treffs wie Künstlerstadt, view oder fotocommunity? Der Deutsche zieht Linien mit dem Lineal, handelt nach einem imaginären Regelwerk, weiss alles besser und meckert sowieso nur rum. Ich muss die deutschen Grenzen hinter mich lassen, Tumblr und ohne Brüste eben auch Instagram. Je nach den Reaktionen auf diesen Kanälen treffe ich weitere kreative Entscheidungen.
Ich bin allein und daran bin ich selbst Schuld. Vor Jahren, wo ich mein kreatives Heil in Technik, Perfektion und Porzellanhaut gesehen habe, konnte ich mich über Anfragen nicht beschweren. Aufwand und Nutzen standen in keinem Verhältnis, wieso auch, es gibt genug Auswahl unter den massenkompatiblen Helden. Fazit: Aus heutiger Sicht würde ich einige Damen und auch Herren gepflegt absagen. Heute sind Anfragen spärlich gesät. Und wenn ich wieder Menschen fotografiere, dann fehlt mir die innere Glut die zum Feuer werden könnte. Alles läuft eher mechanisch.
Das Alleinsein hat auch etwas Gutes. Es ist Zeit für mehr Gedanken zu meinen Arbeiten da. Ich muss nicht fertig werden, kann verwerfen und neue Varianten ausprobieren. Es kommen Anfragen, nur diesmal zu meinen Arbeiten, die gekauft werden wollen. Da jede – nummerierte – Arbeit für mich ein abgeschlossenes Kapitel ist, fällt es mir nicht schwer sie wegzugeben. Mein Problem ist einen angemessenen Preis für ein Kunstwerk zu schöpfen. Ich brauche dringend einen Agenten und Manager!
Vielleicht baue ich mir innerlich und auf mehreren Ebenen zu viel Druck auf. Am Tag des PET/CT Ende November hatte ich Probleme Treppen zu steigen. Auch das Laufen war anstrengend. Ich musste mir erst deutlich vor Augen führen, dass am Tag zuvor die Chemotherapie offiziell abgeschlossen war. Davor wurde mit allerlei chemischer Cocktails sieben Monate lang die Zellteilung in meinem Körper verhindert. Das muss seine Spuren hinterlassen, körperlich als auch geistig. Wieder und wieder muss ich mir dessen bewusst werden, gegen die innere Angst ankämpfen, vielleicht etwas zu versäumen.
Ich brauche ein Spannungsfeld: Neugier im Gewand der Ungeduld. Es bekam neuen Auftrieb, weil ich fast das gesamte Jahr 2016 wenig kreativ aktiv war. Und was ich gemacht habe, hat mich nicht überzeugt. Es war zu grau, gleichgültig und benebelt. 2017 fasst sich für mich etwas besser an, wenn auch scheinbar ein trüber Grundton alles durchzieht. Ich denke an meine BetrachtSteine und das Triptychon. Letzteres ging 2016 – für mich völlig überraschend – weg. Bevor diese Arbeit fertig wurde hatte ich über ein Jahr dran gearbeitet. Ich meine damit die Zeit erster Gedanken, Experimente und dem Hängen in der Ausstellung.
Wieso verlange ich jetzt von mir beinahe unmenschliches, von heute auf morgen Neues abzuliefern? Ich fordere mich wie die Generation Smartphone agiert: Dinge sind noch nicht geschehen aber schon ins weltweite Datennetz gepostet. Für viele Klicks, Follower und Likes muss man schneller und spektakulär blöd sein. Mein Inneres befindet sich – wohl aus Angst meine Zeit wird knapp – auf einem Holzweg. Ich bin dabei mich zu überfordern, mir selbst keine Zeit zu geben. Das lässige Dahinschreiten auf dem Weg zur Arbeit oder zum Atelier sollte ich auch meiner inneren Unruh verordnen. Schnelligkeit bringt mir keine Emotionen zurück. Das bedeutet nicht, dass ich wieder Kompromisse der Bequemlichkeit anderer wegen akzeptiere!