Wir sind verabredet. Es hat Monate gedauert, bis jeder in seinem Terminkalender einen freien Platz fand, der zum anderen passte. Alle fünf Minuten schaue ich auf das iPhone-Display: Keine Absage in letzter Minuten!Wie es sich gehört, bin ich ein paar Minuten früher am verabredeten Ort. Im Kontrastprogramm lässt sich die junge Frau Zeit. Sie zelebriert ihr Erscheinen und macht den Fußweg zum Laufsteg. Das lange blonde Haar weht im Wind. Eine Kopfbewegung, ein gekonnter Handgriff durch das Haar und die lockige Mähne wird in die Position gebracht, die sie haben möchte.
Nach einer gefühlten Stunde für einhundert Meter Schaulaufen ist es endlich soweit.
“Hi. Geht’s dir gut?”
“Hallo, jetzt ja!”
“Wieso? Ist was nicht in Ordnung?”
Ich möchte nicht schon wieder den Wehleidigen raushängen lassen. Hab ihr ohnehin viel zu viel von mir erzählt. Sie ist so eine, die in einer beliebigen Stresssituation jene Dinge hervorkramt, die ich ihr im Vertrauen und zum einmaligen Gebrauch erzählt habe. Vielleicht hätte ich es explizit erwähnen sollen: ‚Nach dem Hören oder Lesen sofort vernichten!‘
“Nee, ist schon OK. War wieder etwas früher da. So eine belebte Strasse, ich und warten, ist nicht mein Ding. Jeder starrt dich an, so als wäre ich ein Außerirdischer.”
“Soll das heißen, dass ich zu spät bin?”
Madame gegenüber vergesse ich mittlerweile jede Form des guten Benehmens. Dieser ständige Termin-Hickhack, die weiblichen Tugenden nach klassischem Stil und ihre Arschruhe, wo ich bereits eine mittlere Panikattacke erleiden würde, lassen mich direkt antworten. Ohne die unterste Stufe des Konversationsniveau zu betreten.
“Jepp, aber nur unwesentlich später. Die meiste Zeit hast du gerade mit Schaulaufen verbracht. Wenigstens konnte ich vom Weiten sehen, dass du im Anflug bist.”
“Wie Schaulaufen? Ich bin ganz normal die Strasse langgegangen. Ich gehe immer so!”
Die in ihr aufkeimende Wut macht ihre Stirn runzelig. Ohnehin trägt sie viel zu viel Make-up. Dezent in der Farbwahl, aber zu viel. Ihre Haut leidet offensichtlich unter Atemnot oder ein paar aufmunternde Sonnenstrahlen. Jedenfalls gelingt es der Spachtelmasse nicht, die zahlreich sprießenden Pickel abzudecken.Vielleicht hat sie auch nur ihre Tage, ist deshalb zickig und mit kleinen runden Eiterdingern übersät. Um einen Gesprächsabbruch vorzubeugen und nicht umsonst durch die halbe Stadt gefahren zu sein, versuche ich meinen Frust einzubremsen. Immerhin liegt fast ein Jahr zwischen heute und unserem letzten Aufeinandertreffen. Und mal abgesehen von ihrem betont weiblichen Habitus ist die junge Dame ansonsten sehr nett.
“Ist schon OK. Ich bin es gewohnt zu warten. Schönes Wetter, das richtige Licht oder auf meine Modelle. Außerdem habe ich Musik gehört und das brauche ich zur Entspannung.”
“Dann ist ja gut.”
Während sie die Worte sprach, legte sie jene Kopfbewegung hin, die das Haar auf wundersame Weise in Position bringt. Viele langhaarige Frauen haben den eigenartigen Schwenk drauf, den ich weder beschreiben noch imitieren kann.
“Lass uns in ein Restaurant gehen, muss endlich was trinken und essen. Ich lad dich ein.”
Wir setzen uns schweigend in Bewegung. Mir fällt auf, dass die Begrüßung heute distanziert ausfiel. Damit meine ich nicht meine verbale Unmutsbekundung bezüglich ihrer Verspätung. Kein Handschlag, kein Umarmen und den letzten Wangenkuss gab’s ohnehin nur zur Verabschiedung nach dem ersten Date. Ich bin ein Kind des Ostens. Da gehörte der Handschlag des Werktätigen zum proletarischen Begrüßungsritual. Alles andere war bourgeois. Wie der Westler, der den Handschlag entweder generell ablehnt, weil unhygienisch. Oder als unangenehm empfindet, sich dafür abwechselnd drei Wangenküsse aufdrücken lässt. Schizophrenie in Reinkultur!
Nach einigem Hin und Her kehren wir ein. Draußen, leicht abseits des Straßenlebens. Innensitzend fühle ich mich als Raucher benachteiligt. Ich verstehe ihre Unentschlossenheit nicht. Noch nicht. Wir sitzen uns gegenüber. Normalerweise die ideale Ausgangsbasis, endlich wieder Frauenhände zu halten. Eine burschikose Alte entpuppt sich als Kellnerin und Chefin des Hauses. Die Personalunion reicht uns eine Speisekarte. Ich lasse Madame den Vortritt, alles andere gibt nur böses Blut.
Schauen, blättern, Stirn runzeln, Karte vor und zurück. So wie mein Date vorhin aufgelaufen ist, entwickelt sich auch die Wahl einer Speise und eines Getränks. Aus dem Nichts heraus schiebt sie mir die Karte herüber. Jetzt bin ich dran.
Das Angebot ist betont übersichtlich, weshalb ich die lange Wartezeit meines Gegenübers nicht ganz verstehe.
“Ich hab’s. Stört es dich, wenn ich eine Zigarette rauche?”
Ich fingere eine Zigarette aus der Schachtel und zünde sie mir an. Unterdessen hat uns das Mannsweib wieder erfasst, sieht die liegende Karte und nimmt unsere Bestellung auf. Ich zeige auf Madame und bitte sie, ihren Wunsch zu äußern.
“Ich hätte gern ein großes stilles Wasser!”
In der Erwartung sich etwas zu essen zu bestellen, kehrt ein Moment der Ruhe ein. Sie vervollständigt.
“Danke, das war’s”
Mich irritiert ihre Bescheidenheit. Heute zahle ich. Stattdessen gebe ich meine Bestellung zum Besten.
“Eine Currywurst mit Pommes und ne große Cola, bitte.”
Mannsweib krakelt auf ein kleines Stück Papier und zieht wieder ab.
“Möchtest du nichts essen?”
“Nein!” erwidert sie kurz und knapp.
Zugegeben, das Angebot ist betont spartanisch. Eigentlich ganz nach meinem Geschmack und hält durchaus ein paar Nettigkeiten bereit.
“Ich bin Vegetarierin und sie haben nichts derart auf der Karte!”
Das war es also. Madame isst Grünzeug, den armen Tiere das Futter weg. Dagegen ist nichts einzuwenden, auch wenn ich diese Modeerscheinung partout nicht verstehe. Der Mensch ist von Natur aus ein Allesfresser. Und auf Dauer können Blumen und Gemüse nicht gut für die Gesundheit sein.
“Warum sagst du nichts? Dann wären wir woanders hingegangen.”
“Du weißt doch, dass ich vegetarisch lebe. Ich habe ausserdem nichts dagegen, dass du deine Currywurst essen möchtest.”
Der “Du weißt doch” ist jener Ausspruch, der mich an ihr zur Weißglut bringt. Immer wieder lässt sie den Spruch ab, per E-Mail, Skype oder bei einem der seltenen Treffen mit ihr. Dabei weiss ich von ihr fast gar nichts. Sicher ist: Frau, blond, langes Haar, geschätzte Mitte Zwanzig und sie hat Ausstrahlung in Form ihrer großen Brüste. Und einen eher flachen Po.
“Wir gehen heute das erste Mal etwas gemeinsam essen, beziehungsweise habe ich es heute zum ersten Mal versucht. Jetzt weiß ich erst, dass du Vegetarierin bist. Hätte ich es gewusst, wären wir woanders hingegangen und ich hätte aus Respekt ebenfalls was Vegetarisches gegessen.”
Madame sortiert ihr Haar und schweigt. Ich ziehe zur Abwechslung an meiner Zigarette, atme den Rauch so aus, dass sie davon unbehelligt bleibt. Ich befürchte sonst, dass sie aufspringt und mich sitzen lässt.
“Warum eigentlich vegetarisch?” versuche ich den an anderen Speiseformen interessierten Fleischesser zu mimen.
“Nur so. Die Figur. Es ist einfach gesünder.”
Ich muss laut losprusten, auch wenn es mir im gleichen Moment Leid tut, so auf ihr Ernährungsverhalten zu reagieren.
“Was gibt es da zu lachen?”
Sie versucht höflich zu bleiben. Die sich kräuselnde Stirn spricht eine andere Sprache.
“Sorry. Es hat nichts mit dir und deiner Lebenseinstellung zu tun. Ich persönlich halte es für so etwas wie eine Modeerscheinung. Der armen Tiere und Massenhaltung wegen. Und das mit dem gesund kannst du auch knicken!”
“Es ist doch aber gesünder, sich ohne tierische Fette und rein pflanzlich zu ernähren. Also mir fehlt nichts.”
“Und was ist mit EHEC?”
“Was soll damit sein?”
“Na dieser ansteckende Darmvirus. Der soll ja insbesondere bei den Leuten auftreten, die übermäßig viel Gemüse essen. Vor allem bei Frauen.”
Ich kann mir das Lachen nicht verkneifen. Die aktuellen Vermutungen über die Verbreitung des Erregers sind Sarkasmus pur. Obst und Gemüse essen, alles Bio wenn’s geht, weil gesund und wichtig für den menschlichen Körper.
Aber dann: EHEC. Gemüse aus Norddeutschland meiden. Dann plötzlich Spanien. Zwei Drittel Frauen unter den Erkrankten.
“Ey, du bist ein Arsch!”
“Warum?”
“Du kannst nur herummeckern, bist ständig schlecht gelaunt und unzufrieden. Dir kann man auch nichts Recht machen.”
“Darum geht es doch gar nicht. Ich bin weder dafür, so etwas herunterzuspielen noch künstlich aufzubauschen. Letztes Jahr war es H1N1. Was wurde da für ein Wind gemacht. Schwarze Pest der Neuzeit, wie im Mittelalter. Am liebsten Zwangsimpfung für alle. Pandemie. Und dann? April, April, war ja doch nicht so schlimm.”
Meine Currywurst mit Pommes ist da. Die Anrichteweise versprüht den Charme eines Menü a la Saison. Mit Delikatess-Gürkchen zum Fächer aufgeschnitten. Dummerweise habe ich die Majo nicht abgewählt. Also kratze ich den potentiellen Salmonellenträger vom Teller auf eine Serviette. Danach geht es an den Verzehr.
Ich setze meinen Monolog fort: “Es ist sicherlich schwierig. Wie soll man mit solchen Situationen wie Schweinegrippe oder jetzt EHEC umgehen? Tut man nichts und es wird wirklich zur Bedrohung, ist das Geschrei groß. Tut man was und es erweist sich als Luftnummer, wird auch krakeelt. Mutmaßungen, wirtschaftliche Interessen und dann die Öffentlichkeitsarbeit der Medien. Horror-Keime, Killer-Keime, Seuche.”
Für die nächsten Minuten ziehe ich es vor, mich an meiner Cola und Currywurst zu erfreuen. Meine sich vegetarisch ernährende Gesprächspartnerin schaut unterdessen dem Treiben auf der Straße zu. Ich kann ihr Schweigen nicht deuten.
“Fukushima. Auch so ne Sache. Als die Reaktoren hochgegangen sind, war man im Fernsehen 24 Stunden live dabei. Heute redet kaum noch ein Schwein darüber. Es geht ja nur um drei Kernschmelzen und Japan ist weit. Freundesland. Ginge es um ein Terroristen- oder Kommunistenreich, dann würde aber verbal auf die Bösen eingedroschen. EHEC wäre nur eine Randnotiz. Die paar bisher Verstorbenen lassen sich bestimmt noch als gutes statistisches Mittel verkaufen.”
“Jetzt übertreibst du aber. Was hat Fukushima mit dem EHEC zu tun? Nichts!”
“Es geht mir um die Verhältnismäßigkeit. Die ist nicht mehr gegeben. Du stolzierst wie ein Tausendschönchen über den Asphalt und scheinst auf die Bestäubung durch irgendeinen Prinzen zu warten. Ich stehe hier wie Bleppo. Im Gegenzug nöle ich dich voll, weil mir mein Magen in den Kniekehlen baumelt. Wegen deines vegetarischen Lebenswandel kriegst du deinen Mund nicht auseinander und ich soll das wissen. Keiner weiß, was EHEC wirklich auslöst und warum mehr Frauen als Männer davon betroffen sind. Trotzdem zerreisst sich die Presse das schlagzeilenträchtig Maul. Die Japse haben die Vorgänge in Fukushima heruntergespielt. Jetzt, wo sich niemand mehr dafür interessiert, räumen sie endlich ein, dass es da unten gewaltig am Strahlen ist.”
Ich lege bei meiner Currywurst zum großen Finale an. Die Pommes lasse ich liegen. Das Frittieröl hat auch schon bessere Tage gesehen.
“Und was willst du dagegen tun, du alter Weltverbesserer?”
“Ich kann nichts dagegen tun. Tatsachen, Fakten. Und bitte nicht jene Wahrheiten zur Dauerberieselung freigeben, die irgendjemand gerade so genehm sind!”
Ich habe fertig!
Zumindest die Currywurst und mittlerweile lauwarme Cola. Ungefragt zünde ich mir eine Zigarette an. Wir lassen den Strassenlärm auf uns wirken. Schweigen ist wirklich Gold.
Manchmal.
“Du, ich gehe nach Hamburg, in meine alte Heimat zurück!”
“Schön. Dann sehen wir uns noch seltener.”
Ich beneide sie um den Wohnsitzwechsel. Hamburg ist wie Berlin, nur in klein und überschaubarer. Großstadt, Wasser und viel Grün. Nur an der Alster muss man sich als Normalsterblicher vorsehen. Jogger, Radfahrer und Jungeltern mit Kinderwagen drehen hier rücksichtslos ihre Kreise. Und Autofahrer lösen Verkehrsprobleme mit animalischen Hupkonzerten. Das hat Berlin nicht zu bieten.
“Quatsch. Hab doch weiterhin hier zu tun. Film, Fernsehen und meine Kundinnen.”
Hätte uns bisheriges Zusammentreffen nicht diesen Verlauf genommen, würde ich sie fragen, warum sie dann nach Hamburg geht. Doch ich lasse es lieber. Die ohnehin gereizte Stimmung könnte endgültig in einer Untiefe enden. Realistisch betrachtet liegt ein Abschied für immer in der Luft.
Dafür bekommt das Mannsweib meinen aufgestauten Frust ab.
“Hat es ihnen geschmeckt?”
“Die Currywurst war gut, die Pommes dagegen eine Katastrophe.”
“Waren die Pommes innen noch roh? Außen sahen sie schon gut aus.”
“Es ist wohl eher das Altöl.”
“Das Öl war frisch” schnauft mich die Chefin an, plustert sich vor mir auf und parkt mit angewinkelten Ellenbogen die Hände auf ihrer Hummeltaille.
“Stimmt, es war mal frisch. Ich hätte gern die Rechnung, zusammen.”
Ich warte keine Entschuldigung oder ein billiges Versöhnungsangebot. Ich, der Kunde und Gast muss nicht mild gestimmt werden. Ich bin in Berlin und darf froh sein, mit heiler Haut das Lokal verlassen zu dürfen.
“8 Euro 75”
Ich hole einen Zehner aus dem Portemonnaie und reiche den Schein wortlos herüber. Sie wartet. Ich runde den Betrag nicht auf.
“Komme gleich wieder. Ich habe kein Kleingeld dabei” sagte die Hausherrin und verschwand.
“Das kannst du nicht machen.”
Madame ist mein Verhalten sichtlich unangenehm.
“Warum nicht? Die Frische des Öl ist definitiv schon lange her und sie hätte irgendetwas zur Entschuldigung sagen können. Stattdessen macht sie ein auf Muckibude und mault mich voll. Soll sie die Pommes doch mitnehmen und aufgewärmt an den nächsten Gast weiterverkaufen. Wenn das kein Geschäft ist!”
Madame schwingt und zupft vor Entrüstung ihre Haar zurecht. Unterdessen halte ich wortlos übergeben mein Wechselgeld in der Hand. Ich hatte damit gerechnet, als kleine Revanche ihrerseits in 1 Cent-Stücken ausgezahlt zu werden. Die Restaurantleiterin straft mich stattdessen nur mit Missachtung.
Demonstrativ wünscht sie meiner Begleitung einen schönen Tag.
Wir stehen am Strassenrand, schauen uns an. Ich mag ihr nicht lange in die Augen blicken. Irgendwie war und ist bei uns der Wurm drin. Wunsch und Realität liegen zu weit auseinander.
Wir verabschieden uns.
Ohne Handschlag.
Ohne Umarmung.
Einfach nur so und im gebührenden Abstand. Rückblickend hätte das Treffen bereits mit der Begrüßung sein Ende nehmen können. Aber wer weiss das schon im Vorfeld.