Der Mensch neigt dazu, für ihn negative Erfahrungen aus dem Gedächtnis zu tilgen und mit gewissem Abstand zu verklären. Mit Brachialgewalt will Mensch ein positivistischer Schöngeist höherer Ordnung sein. So können im Laufe der Zeit Pleiten, Pech und Pannen zu heroischen Einzeltaten mutieren oder eine lebenslange Hemmschwelle bilden. Wer gibt schon gerne zu, einen Fehler begangen oder verloren zu haben. Dabei kann durchaus – so ist meine Erfahrung – in der Niederlage ein Erfolg für die weitere Zukunft liegen.
Ohne Umschweife: 2016 war ein Scheißjahr. Dreiviertel des Jahres war ich zum Nichtstun verdammt. Ich gebe Zeit um an mehr Lebenszeit zu kommen. So ist jedenfalls die Prognose, ausgegeben wenige Stunden vor Beginn der Chemotherapie.
Ein paar Monate später, ein Tag im November. Mich ruft der Arzt in sein Sprechzimmer und verkündet das Ergebnis der Untersuchung: Man hat kein aktives Krebsgewebe gefunden! Es dauert Stunden, bis ich diese Botschaft verstanden habe und sich die Anspannung der letzten Monate in Tränen entlädt.
Friede, Freude, Eierkuchen? Mitnichten! Es beginnt ein langer Prozess des Warten und Hoffen, dass der aktuelle Zustand über Jahre und Jahrzehnte so bleibt. Erst nach fünf Jahren wird eine gewisse hohe Wahrscheinlichkeit angenommen, fortan als geheilt zu gelten.
Viel (Frei-)Zeit gehabt zu haben bedeutet nicht, dass ich das Krankenlager gegen das Atelier tauschen konnte. Jeder Tag war ein Kampf gegen die Nebenwirkungen und Konsequenzen der Chemotherapie. Jeder Tag war anders, glich nie einem Tag zuvor. Und dann waren da noch die spontanen Ausfälle.
Und doch gab es Tage, an denen es mich ins Atelier zog. Für wenige Stunden tat ich das, wonach mir gerade der Sinn stand. Meist waren es mechanisch anmutende Tätigkeiten, frei von jeder Emotion oder einem tollkühnen Gedanken. So bestand meine kreative Arbeit im Wesentlichen darin, Marvin Leben einzuhauchen, neue und alte Inhalte hochzuladen.
Nachdem ich 2015 eher selten zur Kamera gegriffen, dafür mehr in der Dunkelkammer gearbeitet habe, fällt 2016 die kreative Produktivität noch weiter ab. Was in diesem Jahr, vor allem nach dem ersten Quartal entsteht, ist noch grau-trüber und verstört mich immer wieder. Es gab einen kleinen Lichtblick, doch macht sich bald Enttäuschung in mir und in den Bildern breit.
Ein Jahr zum Vergessen? Auch wenn ich kein Interesse an einer Wiederholung habe: Auf keinen Fall! Elend ist eine subjektive Wahrnehmung. Ich meine in den letzten Monaten viel Elend gesehen zu haben und mir ging es trotz Krebsdiagnose und Chemotherapie gut. Irgendwie habe ich die Zeit überbrücken können, ohne innerlich daran kaputt zu gehen. Immer wieder habe ich mich an den Satz des Professors erinnert, „Zeit zu investieren um nach der Therapie mehr Zeit fürs Leben zu haben“. Dazu gab es nur eine Alternative und die heißt Krebstod!
Und genau in diesem Satz liegt auch die Zukunft, meine Zukunft: Ich überlege mir jetzt, wem oder was ich meine Zeit schenke. Sinnfreie Versprechen um sich wichtig zu machen: Zeit – Nein Danke! Dafür habe ich nicht die letzten Monate ums Überleben gekämpft. Kein Getue und Gehabe aus irgendwelchen fadenscheinigen Gründen, ich gebe meine Zeit für ernste Absichten. Mit drei Geburttagen, die ich mittlerweile begehen kann, gibt es nichts mehr zu verschenken. Noch einmal auf irgendeine Gnade Glück zu hoffen strapaziert selbiges über Gebühr. Das geht auf Dauer nicht gut. So einfach ist das!
Ich danke all jenen, die ihr Wissen und Handeln für mich eingesetzt, die mich die letzten Monate aktiv und intensiv begleitet haben!