Endend müde

„Du siehst wieder müde aus.“

Das will Mann lesen, wenn ich ihr ein Selfie von mir schicke.
Ich, der Analogguru, verschicke digitale Schnappschüsse.
Es geht nicht anders, jedenfalls in der langen Zeit, in der wir uns nicht sehen können.
Aber das Müde ist ja kein so neues Thema. Jedenfalls für mich. Egal, wer oder was das Schuldige an der Sache war oder ist.

Fühle ich mich müde? In gewisser Weise schon. Ich fühle mich sogar auf verschiedenen Ebenen müde. So wie mein Fehler mangelnder Erinnerung auf mehreren Ebenen liegt. Aber das ist ein anderes Thema.

Da ist die körperliche Erschöpfung. Ich weiss gar nicht, wie ich den Tag ohne eine Überdosis Koffein am Morgen beginnen könnte. Nein, nein. Es geht nicht um mangelnde Motivation. Ich bin motiviert. Viele Ideen sind als Notizen festgehalten. Es sind so viele, dass ich nicht weiss wo und wie ich beginnen soll. Eine Depression ist es also nicht.

Corona, Home Office, Präsenz und steigende Infektionszahlen, Leugnen und Hysterie: Der Dauerbrenner der letzten Monate macht genauso müde. Ich lese keine Zeitung mehr, ich schaue keine Nachrichten oder Pressekonferenzen mehr. Die, die Querdenken sind auch nur Demagogen. Es ist in dieser Situation zu wenig Wissen und Erfahrung da, dass eigentlich niemand das Recht hat, sich mit einer fundierten Meinung weit aus dem Fenster zu lehnen. Ich weiss nichts, also schweige ich. Doch selbst Schweigen macht müde. Mich jedenfalls.

Und uns darf ich auch nicht vergessen. Das Leben in der grossen und kleinen Welt ist anstrengend. Ich hätte nicht gedacht, dass es mir so schwer fällt mich darauf einzustellen, ohne dass ich dann und wann unseren Shutdown riskiere. Weisheit hat nichts mit Alter zu tun. Es ist eher die Erfahrung und die fehlt mir, was jedenfalls unsere Konstellation angeht. Ansonsten schützt Alter nicht davor, den Tollpatsch und Narr zu geben. Und wo ich es an meiner Gelassenheit fehlen lasse, weiss ich wieder, warum ich eigentlich diesen Weg nicht mehr gehen wollte: Ich will dieses Gefühl des Schmerzes nie wieder spüren! Einmal Katastrophe und ein Beinahe-Ende sind genug. Wohl aber noch nicht Lehre genug, sich dann doch wieder darauf einzulassen.

Schmerz und Herz. Nein, nicht der Port, der mich seit dem letzten Besuch bei Gandalf den Weißen masslos ärgert. Warum müssen Schwester wie irre An der Spritze ziehen obwohl sie merken, dass meine Verbindung zur Innenwelt nur eine Einbahnstrasse ist. Noch ein Jahr, dann bin ich Langzeitüberlebender und das Scheißteil fliegt raus. Wenn mich eine Verlustangst begleitet, bleibt kein Raum die gemeinsame Zeit auch ohne dich intensiv zu geniessen. Alles ist vergänglich, hat sein Verfallsdatum. So auch Worte, Bilder und erst recht der Mensch. Und kein Mensch ist rein in seinen Gedanken, selbst ein erklärter Engel nicht.

Ich überlese ihre Wort mit dem müden Eindruck, den das Selfie vermittelt. Meine Gedanken und die Antwort könnten nur noch mehr Fragen aufwerfen. Das endet in einer Endlosschleife. Wo beginnt eigentlich eine Endlosschleife, wenn sie gar kein Ende hat? Ein Anfang ohne ein Ende, wäre das nicht unerträglich? Ich weiss, dass sie alles unendlich möchte. Das Leben und die Liebe, einfach alles darf sein aber nur nicht enden. Wie soll es weitergehen, wenn sich Schleife an Schleife reiht. Eine Kette Unendlichkeit?

Wenn ich grenzenlos liebe, bereit mir der Gedanke unendlich Unbehagen. Wie Perfektion. Niemand ist sich bewusst, was unendlich und perfekt bedeutet. Denn genau sie sind das wahre Ende jeder Veränderung. Das Ende kann ein neuer Anfang sein. Ich liebe ihre Imperfektion, auch wenn sie mich Kraft und Schlaf gekostet hat. Müde macht. Ich möchte kein Ideal, weil ich selbst alles andere als ideal bin, herrlich imperfekt agiere. Für mich liegt die echte Freude am Leben darin, dass es das Vergängliche gibt.

Während ich so über die Ermüdung im Leben vor mich hin philosophiere, bemerke ich nicht, dass sie wieder da ist und neben mir auf dem Balkon stehst. Seit sie ihren Schlüssel hat, kann sie hier sein wann sie möchte. Ich werde für ihr Dasein nicht mehr gebraucht. Irgendwie fühle ich mich gezwungen auf meine Weise auf ihre Feststellung, dass ich müde aussehe, zu reagieren: „Rauchst du schon wieder oder ist die Zeit zwischen den beiden Zigaretten so schnell vergangen?“

Autor: makkerrony

Makkerrony, der Macher des Lichtbildprophet, ist ein bekennender Autodidakt, lebt in Berlin und geht seit mehr als zwanzig Jahren dem Hobby (Analog-)Fotografie nach. Sein Dilettantismus hat gereicht, in fünfzehn Jahre ca. 150 Artikel für Fotofachzeitschriften und vier Bücher, alles auf Papier gedruckt erschienen, zu schreiben. Ein Mensch behauptete mal, Makkerrony sei ein guter Fotograf, hat allerdings einen denkwürdigen Geschmack. Jemand anderes meinte, Makkerrony könne einen Haufen Hundescheisse fotografieren und es sehe gut aus. Ein Model lehnte die Arbeit mit dem Lichtbildprophet ab, weil seine Bilder so aussehen, als müsse sich das Model anstrengen.