Ich bin ja streng unreligiös erzogen. Und das, obwohl sich meine Polytechnische Oberschule neben einer katholischen Kirche befand und die Tochter eines dort angestellten Geistlichen in meine Klasse ging. Es hat nicht viel geholfen, ich glaube eher an den Urknall als an Gottes Werk. Wobei: In den letzten Jahren stelle ich mir die Frage, was vor dem Urknall war. Das Nichts ist explodiert, so versucht man es zu erklären um im selben Atemzug zu betonen, dass der Urknall nur eine Theorie sei. Ist er, der Urknall, also ein Unsinn? Muss ich mein Weltbild erneut gerade rücken, weil man sich beim Eisen im Spinat verrechnet hat und Cola nicht die Magen auffrisst? Dann könnte der ganze hysterische neuartige Corona – COVID-19 – Irrsinn ja auch so eine wissenschaftliche Theorie mit Fehlbarkeitspotential a la ‚Die Erde ist eine Scheibe‘-Theorie oder ‚ist in der Mitte hohl‘ sein. Hohl wie der Schokoladen-Weihnachts-Hase-Mann in meiner Nachttisch-Schublade, kein Eisenkern und so.
Das explodierte Nichts kann nicht solch ein Universum schaffen. Das liegt wieder verdächtig nah an Gottes Leistung. Uns fehlt einfach die Fantasie, über den Punkt Null hinaus in die Zeit davor zu blicken.
Ich weiss nicht, wo ich bei meinem Urknall anfangen soll. Ursprünglich habe ich die Presspappen-Platte als Unterlage verwendet. Irgendwann wurde sie zum Malmedium befördert. Und da begann für mich ein kreativer Leidensweg. Für die Platte und mich. Das ist an sich nicht ungewöhnlich. Ich bin kein Vorzeichner oder elitäres Genie mit einer Vision. Es beginnt irgendwann und ab da lasse ich mich von meinen Gedanken und Eindrücken treiben. Nichts sollte mich von dem Weg abbringen. Es kommt anders.
Das neue Jahr ist keine zwei Tage alt, da stehen wir beide alleine im weiten Park und umarmen uns. Es ist eine Weile her, dass wir uns beide allein gesehen haben. In meiner Wahrnehmung war es das letzte Mal im Sommer 2017. Die Umstände hätten besser sein können, doch es ging nicht anders. In der Zeit danach hat sich abgezeichnet, dass jeder irgendwie sein Ding machen wird. Selbstbestimmt und unabhängig voneinander. Dass die verstrichene Zeit auch ihre Spuren hinterlassen hat, war im Moment der umarmten Glückseligkeit nicht zu sehen. Jedenfalls für mich nicht. Für den Augenblick ist das noch egal und hält uns deshalb nicht davon ab, die nächsten Wochen sich so oft zu sehen, wie es zuvor so nicht der Fall war. Für mich ist es ungewohnt nicht allein im Atelier zu sein. Aber es ist sie und wir können über uns, das Vergangene und die Kunst reden.
Der ‚Urknall‘ begleitet das Geschehene.
Es dauerte nicht lange und wir verfallen von mir getrieben wieder in ein Muster, das nicht zum ersten Mal das innere Fass zu überlaufen bringt. In meinen kühnen Gedanken bin ich weit vorgeprescht. Bin ich auf dem Holzweg? Ich bin unsicher. Eigene Gedanken, Wünsche, das Alter, darf das überhaupt sein und kann das gut gehen? Was passiert, wenn sich alles zur Einbahnstrasse oder gar Sackgasse entwickelt? Ich bin auf keiner Suche und genieße den Status quo. Alles andere lenkt ab, vor allem im Kopf und damit von der Kreativität.
Der „Urknall“ füllt sich blau.
Warum nehme ich ausgerechnet blau? Kalt! Oder ist es eine innere Suche nach Beständigkeit, von Sympathie, Harmonie und meiner geliebten Zufriedenheit. In Arbeiten zuvor war ich erdigen Tönen verfallen. Ich erreiche mit der Arbeit am späteren „Urknall“ einen Punkt, an dem ich aufhören sollte. Auch bei ihr, oder sollte ich sagen bei uns? Es öffnet sich eine Schere im Kopf: Kann ich mehr erreichen, wenn ich den nächsten Schritt gehe oder ist es der berühmte eine Schritt zu viel? Im Laufe des Entstehens des „Urknall“ überschreite ich die Grenze mehrmals und verliere. Das erzwungene Mehr ist der Schritt zu viel, das Überschreiten der Grenze, ein kreatives Debakel. Bei ihr gelingt es mir genauso meinen Schritt zu weit zu gehen und wieder einmal ein menschliches Fiasko anzurichten.
Der „Urknall“ wird überklebt.
Als ob sich damit ein Problem lösen lässt. Plötzlich finden sich Körperabdrücke im Bild. Dabei weiss ich genau, dass das Dreidimensionale nicht mein Ding ist. Lage für Lage, Schicht für Schicht geht in Ordnung, nur in der dritten Ebene muss ich den Ball flach halten. Meine Unzufriedenheit über meine eigene Dummheit, die Feigheit selbst aktiv zu werden statt zu warten, schlägt sich in der kreativen Arbeit nieder. Die Körperabdrücke gehen wieder runter, dafür kommt eine neue Lage rauf. Mittlerweile steigt der Druck im Kessel so an, dass selbst die Presspappe sich zu wölben beginnt.
Der wahre Urknall.
Sie fragt mich, ob ich morgen Zeit habe: „Wir müssen reden, ich will das jetzt mit uns klären“. Die kurze lange Zeit bis dahin ist eine Qual. Wir klopfen vorsichtig per Nachrichten ab, wie der andere gerade tickt. Das gewellte Häufchen Pressspan würde ich liebend gern aus dem Fenster werfen, wenn das Atelier denn mal ein paar Fenster hätte.
Stunde Null, Minute Null und Sekunde Null.
Ich bemerke, vielleicht zu spät: In den vielen Monaten, die wir uns nicht gesehen haben, ist sie menschlich wie äußerlich gereift. So ist schnell gesagt, was hätte längst gesagt werden musste. Jeder hat seine Bahn, nur ist warum auch immer ein Moment gekommen, wo sich beide Kurvenzüge kreuzen und auch noch treffen. Ich stelle fest: Ein Urknall ist gar nicht so schlimm, auch wenn das Danach in mir neue Fragen aufwirft, viel Ungewisses in sich bürgt. Ich betrachte es ab jetzt als eine Prüfung. Wer weiss, wozu sie später einmal gut ist.
Der „Urknall“ ausgepackt.
Innerlich befreit entscheide ich mich, alle geklebten Lagen zu entfernen. Durch die Wirren der letzten Wochen habe ich völlig vergessen, wie die ersten Farbschichten überhaupt aussehen. Befreit von Papier und Kleber nimmt die Platte sogar wieder ihre ursprüngliche Form an. Zwar bleibe ich beim Blau, dennoch trage ich eine neue Schicht Blau in Facetten auf und sorge zudem für mehr Struktur. Mit einem Zahnspachtel kleckse ich parallele Streifen, ein zweiter Schwung mit neuer Farbe kreuzt sie. Weiße, orange und rote Blitze zucken auf, dazu allerlei gekleckstes Lametta für mehr Details. Diese Wochen aus Angst, Wut und Zweifel mussten solch eine Arbeit hervorbringen. In meinen Augen sehe ich so etwas wie eine Fusion. Wieder im Atelier spricht sie vom „Urknall“.
Es ist Abend, sie meldet sich noch einmal und sagt, dass der „Urknall“ unser Bild ist und ich möge es immer behalten, für uns.
Ich liege allein in meinem Kingsize-Bett.
Mein Blick geht an die Bilderwand, linke obere Ecke.
Da hängt es.
@ artlover: es geht, ich habe ja ein paar jahrzehnte übung als autor. es ist mein blickwinkel, ’sie‘ könnte es vllt anders sehen. aber ich musste die sache irgendwie verarbeiten, war es doch eine grosse überraschung 😊
Eine interessante Story zum Bild, klasse geschrieben.
Ich denke es ist schwer so etwas in Worte zu fassen und dann auch noch Preis zu geben … ist es doch manchmal sehr persönlich was dahinter steckt.
Das ist jedenfalls meine jahrelange Erfahrung.