Mit Pinsel und Selen

Wer so ‚dämlich‘ ist und ohne Computer und Photoshop-Abo Lichtbilder zu Papier bringt, der kommt nicht am Selentoner vorbei. So jedenfalls die weitläufige Meinung der Halbwissenden. Beim Studium des Altmeister Eder bin ich nicht auf den Selen-Okultismus gestoßen, wie er heute praktiziert wird. Zugegeben, das Schwarz im Lichtbild gewinnt in Selen an Dichte und ein Lichtbild nach dem Selentoner-Bad offenbart gebleicht ein herrlich braunes Farbstoffbild. Im normal prozessierten Abzug, wie es heute die Meister mahnen, legt Selen maximal einen auberginefarbenen Unterton nach. Für mehr ist das Schwarz einfach zu dicht. Und zu mehr habe ich es im handgemachten Lichtbild unter Selen auch nicht gebracht, bisher jedenfalls.

Pauschal lässt sich aus meiner Praxis sagen: Alle Huschhusch-Entwicklungen (frische Arbeitslösungen, Belichtung auf den Punkt, Gradationsgefiltert und Bewegung des Abzugs in der Arbeitslösung) führen zum fetten Schwarzweißbild wie es die Masse bevorzugt. In der Regel entsteht kaum bis kein Restbild beziehungsweise Farbstoffbild (siehe Mutter in ‚Die Technik der Negativ- und Positivverfahren‘). Apropos Mutter: Im Zusammenhang mit meinen Pyrogallol/Brenzcatechin-Ausführungen gibt Mutter an, dass eben wegen der bräunlichen Farbigkeit Pyrogallol als Papierentwickler eingesetzt wird; damals, zu Mutter’s Zeiten. Heute entwickelt man Schwarzweiß, wer davon abweichen will, der bleicht und tont was das Zeug hergibt.

In Fachquellen als auch im Volksmund gibt es den Hinweis, das Farbigkeit beim Quälen von Abzügen im Zuge des Prozesses auftreten kann. Ohne den gezielten Einsatz gerbender oder färbender Entwicklungen ist mir das mit modernen Papieren in der Schale noch nicht – wirklich – passiert. Eher beobachte ich diesen Effekt bei älteren Fotopapieren, deren Mindesthaltbarkeit um Jahrzehnte abgelaufen ist. Eine Farbigkeit ohne viel zutun kann ich dann provozieren, arbeite ich beim Abzug mit dem Pinsel und lasse auf dem Papier eine Schicht Entwickler über zwei bis drei Minuten stehen.

Bei der Pinselentwicklung belichte ich grundsätzlich ein bis zwei Lichtwerte länger. Arbeite ich mit viel Pinselbewegung, verwende ich – für mich – normale Ansätze der Arbeitslösung. Für mich ’normal‘ heißt: Ein alter Ansatz Arbeitslösung wird mit einem Teil neuer Arbeitslösung aufgefrischt. Das Vorgehen darf man nicht mit dem sonst üblichen Refurbishing verwechseln, da nicht immer wieder aufgefrischt wird. Im Ergebnis gibt es so Schwarzweiß-Lichtbilder normaler Ausprägung, nur mit dem entsprechenden Pinselrand.

Arbeite ich mit wenigen Pinselstrichen, wird die Arbeitslösung etwas fetter angesetzt. Ein belichteter Abzug benetze ich mit Entwickler und einem breiten Hake-Pinsel einmal pro Bahn. Die Oberflächenspannung der Gelatine-Schutzschicht verhindert das direkte Eindringen der Entwicklers, wodurch gerade am Rand die Wisch- und Tropfeffekte entstehen. Ich warte, bis sich erste Spuren des Bildes abzeichnen. Jetzt ist der Zeitpunkt da, sich auf die wichtigen ’schwarzweißen‘ Bilddetails festzulegen. Sie werden entweder mit der Spitze des breiten Hake Pinsels oder mit einem zweiten, schmaleren Hake Pinsel und etwas neuem Entwickler versorgt. Alles andere, was nicht aufgefrischt und zum Kontrast gepinselt wird, hat gute Chancen, im Selentoner-Bad schön farbig zu werden.

Ist das Entwickeln auf Sicht abgeschlossen, bade ich den Abzug kurz in Wasser und fixiere ihn. Danach geht es wieder ins Wasserbad. Ich habe es mir angewöhnt, vor dem Tonen, Bleichen und oder Rückentwickeln den Abzug zu trocknen und zu bewerten. Erst dann folgen die weiteren Schritte. Also muss der Abzug wieder gewässert werden und geht dann in den Selentoner. Zuvor nehme ich vom alten Toneransatz – vorsichtig – eine Nase. Riecht er in der Schale nach Ammoniak, ist noch Leben in ihm. Er bekommt ein paar Spritzer frischen konzentrierten Selentoner dazu, gut ist. Die Frage nach dem Ansatz der Selentoner-Arbeitslösung hat sich damit erledigt. Der Stamm wurde von mir mit 1:10 angesetzt. Das ist aber Jahre her.

Die Zeitangaben beziehen sich auf Fomaspeed-Fotopapier: Der eingelegte Abzug wird etwa eine halbe Minuten bewegt. Danach geht es langsamer weiter, das Lichtbild soll ja kein Schleudertrauma erleiden. In den nächsten dreißig Sekunden ziehen etwas die gut gepinselten Schwärzen an. Jetzt heißt es Geduld haben und die Bereiche beobachten, die bereits im trockenen Zustand einen farbigen Touch besaßen. Über das bereits erwähnte Aubergine wandert der Ton in ein Braun und Schwarz. Das heißt: Man muss Eier haben und beherzt den Punkt für das Ende des Selentonens setzen. Der Abzug wandert ins Wasser und darf noch etwas baden.

Beim Bergger Prestige sieht es etwas anders aus. Die Entwicklerlache bringt einen zarten Ockerton mit der Tendenz zum Grün hervor. Das Bad im Selentoner dauert – im Vergleich zu Fomaspeed – deutlich länger. Gefühlt mindestens doppelt solange und geht in der Tendenz zum Aubergine beziehungsweise zarten Braunton. Zur Zeit habe ich noch keine anderen Papiere ausprobieren können.

Ein ‚fertiges‘ Beispiel wird hier gezeigt. Den Fokus habe ich auf den Weg und die Schatten der Grabsteine gelegt. Dieser Bereich wurde nach dem ersten Benetzen und sichtbaren Bildspuren mehrfach mit ‚frischer‘ Arbeitslösung nachgepinselt. Beim Auffrischen der Fatman ‚Black Hole‘-Mischung gab es diesmal nur etwa ein Viertel der sonst üblichen Wasserzugabe, weshalb der Ansatz eher als ’satt‘ zu bezeichnen wäre. Ich wollte ein dichtes Schwarz als auch möglich viele Details aus der – hellen – Wegstruktur herausholen. An den Schatten habe ich auch den Abbruch der Entwicklung festgemacht.

Das ganze Selentonen-Prozedere dauert ca. zwei bis drei Minuten pro Abzug. Der schwierige Punkt ist das Festlegen des Abbrechens der Selentonung. Durch den unterschiedlichen Grad der Entwicklung mit dem Pinsel entstehen mehrere Tonnuancen, die sich mit dem Trocknen noch einmal verändern. Zumindest ist das beschriebene Vorgehen ein Weg, mit dem Selentoner direkt farbig zu tonen. Man muss ’nur‘ die Positiventwicklung von Schnellschnell auf zurückhaltend benetzte Papieroberfläche mit geringer Agitation umstellen.

Autor: makkerrony

Makkerrony, der Macher des Lichtbildprophet, ist ein bekennender Autodidakt, lebt in Berlin und geht seit mehr als zwanzig Jahren dem Hobby (Analog-)Fotografie nach. Sein Dilettantismus hat gereicht, in fünfzehn Jahre ca. 150 Artikel für Fotofachzeitschriften und vier Bücher, alles auf Papier gedruckt erschienen, zu schreiben. Ein Mensch behauptete mal, Makkerrony sei ein guter Fotograf, hat allerdings einen denkwürdigen Geschmack. Jemand anderes meinte, Makkerrony könne einen Haufen Hundescheisse fotografieren und es sehe gut aus. Ein Model lehnte die Arbeit mit dem Lichtbildprophet ab, weil seine Bilder so aussehen, als müsse sich das Model anstrengen.