Binäre Denkmuster und Sprache

Nur dunkel kann ich mich erinnern, was ich in der Schule zur Geschichte der Menschheit gelernt habe. Den Einwurf, alles wäre in der DDR politisch geprägt gewesen, nehme ich auf und gebe ihn von Herzen an den Westen zurück. Deren Weltbild von der sowjetischen Besatzungszone und den unterdrückten Brüdern im armen Osten, wo an jeder Straßenecke ein Russe mit gezückter Maschinenpistole stand und nie die Sonne schien, ist genauso politisch inkorrekt geprägt. Letztendlich hat die Ideologie der Systeme dafür gesorgt, dass das Zusammenwachsen des deutschen Volkes wohl auf Jahrhunderte von der physischen als auch psychologischen Mauer geprägt sein wird. Euphorie und Blauäugigkeit auf der einen Seite, Siegestaumel und Überheblichkeit auf der anderen Seite bleibt, selbst wenn Generationen später eine klare Trennung zwischen Ost und West kaum noch möglich ist. Es ist wie die beschworene Antipathie zwischen Preußen und Bayern: Der Mensch braucht (s)ein binäres Denkmuster, im Großen wie im Kleinen. Freund oder Feind, dazwischen gibt es nichts. Anders ist es vielleicht auch nicht erklärbar, warum der Massenmensch nach Perfektion und absoluter Schönheit strebt. Es geht um die heile Welt und wehe, Menschen wie ich stören sich daran, agieren dagegen und stellen sich gegen das ‚Friede, Freude, Eierkuchen‘-Gehabe.

Sehe ich mir den Mensch von heute in meiner Vogelperspektive an: Vielleicht gab es keinen Grund, dass der Neandertaler aussterben musste? Außer der Homo sapiens hat es so gewollt und so geschehen lassen? Letztlich ist uns alles egal, selbst der ‚geliebte Mensch‘ neben dir.

In den Qualitätsmedien taucht ein Bericht über den Antisemitismus 2.0 auf. Ich höre mir an, wie schlimm die heutige Welt im Internet ist und beschließe mir den genannten Bericht zu organisieren. Lange frage ich mich beim Lesen, worin das Problem liegt. Tagtäglich werde ich mit Formulierungen konfrontiert, bei denen ich mich frage, ob derjenige, der die Phrasen und Parolen artikuliert hat überhaupt weiß, was er dort eigentlich erzählt. Das beste Beispiel sind die skripted reality-Wortegefechte im Hartz IV-TV. Lautstark ausgeführt und durch die Besetzung mit hobby-schauspielernden Vertretern des Gesetzes offensichtlich scheinlegitimiert. So sieht die Masse die Welt, Millionen Zuschauer können sich nicht irren. Dass das – weil es Quote bringt – im privatfinanzierten TV zu sehen ist, lässt sich systembedingt nicht ändern. Wenn aber ein über eine Zwangsabgabe finanziertes ‚öffentliches Sprachrohr‘ denselben Verbalmüll – wegen der Quote – produziert, dann bleibt der intellektuelle Anspruch auf der Strecke. Die Teletubbysierung der vernetzten Medienkonsumenten muss sich letztlich in der Wahrnehmung und Artikulation des Einzelnen niederschlagen.

Ich sollte mir über eines klar sein: Sprache ändert sich, so auch die deutsche Sprache. Nicht immer zu ihrem Vorteil. Eine Sprache muss flexibel auf neue Begrifflichkeiten reagieren, ohne das Worte künstlich wirken. Diesen Effekt haben wir im Deutschen, um bloß nicht Dinge beim eigentlichen Namen nennen zu müssen. Mir fällt sofort der Begriff Ghetto ein: Eine Frau aus dem Westteil Berlins sagt, dass ich im Ghetto – gemeint ist natürlich Marzahn – wohne. Diese Äußerung entbehrt rein sachlich jedweder Grundlage und fußt allein darin, dass das binäre Denken der jungen Frau sie im Vorteil – Wohnort Charlottenburg – sieht. Muss ich mich deshalb verfolgt, ausgegrenzt, diskriminiert, vergewaltigt, gemobbt oder geteert und gefedert fühlen? Natürlich kratzt dieser verbale Blödsinn am Ego, steht der Begriff Ghetto zumindest in Deutschland für ein dunkles Kapitel der Geschichte. Ich möchte mich nicht aus einer Verantwortung nehmen, die meine – mir unbekannten – Großeltern zu verantworten eingegangen sind. Für die Änderung der Bedeutung von Sprache bin ich nicht verantwortlich, selbst wenn ich mich hier oft und gerne als Bedeutungsverbieger betätige.

Neben dem Aufweichen des intellektuellen Anspruchs und der gezielten Förderung der Individualbequemlichkeit setzt das Verdrängen der Vergangenheit zu. Anders formuliert: Ist die Geschichte des Mittelalters wirklich so geschehen, wie sie mir heute gepredigt wird? Kann es nicht sein, dass das Geschichtsbild aus unterschiedlichsten Gründen einer Umbewertung unterzogen wurde? Denn je nach Grad der Betroffenheit wird die Vergangenheit in den eigenen Äußerungen betont negativ glorifiziert oder in dessen totales Gegenteil verklärt. Die Äußerung ist nicht als Täter-Opfer-Umkehr zu interpretieren. Vielmehr hat die jeweilige Haltung Einfluß auf die individuelle Artikulation und damit auch auf die eigene wie allgemeine Wahrnehmung. In der deutschen Vergangenheit gab es nicht nur das eine Opfer aufgrund einer kruden Rassenideologie. Genauso wenig waren – nach DDR-Ideologie – ausschließlich Kommunisten und vielleicht ein paar Sozialdemokraten, Kriminelle und Christen in Arbeits- und Konzentrationslagern inhaftiert. Was ist mit den Sinti und Roma, mit den anderen Völkern, die nicht der staatstragenden Rassenideologie entsprachen.? Ich darf nicht als Einzelner mein Denkmuster auf meine Situation und Lage beziehen. Vielmehr muss die Gesamtheit im betrachtenden Auge liegen und daraus meine Situation abgeleitet werden. Gelingt es über ein Opfer den Mantel des Vergessens zu legen, haben alle Opfer verloren.

Und da geht es los: Von Verrätern ist die Rede, vom Vogelschiss der Geschichte und vom Leugnen. Diese Haltung beschämt mich, denn es geht wie vielleicht einst – ich bin nicht so alt um es mit Gewissheit zu sagen – munter weiter. Was keinen Fürsprecher hat und am Rande der Gesellschaft lebt, ist für das eigene Wohl völlig egal. Selbst unsere eigenen Kinder und Alten lassen wir – gut begründet – in Armut vegetieren. Der Mensch, der Egoist. Unter den Gleichen gibt es eben jene, die gleicher sind. Und wenn wir schon diese Trennung leben, bedienen wir uns alt hergebrachter Begrifflichkeiten, ordnen ihr einfach nur eine neue Bedeutung zu. Oder wir schaffen neue Worte mit einer Bedeutung, die uns aussehen lässt, als meinten wir es mit dem Rest der Welt wirklich gut. Bei der verbalen Schlitzohrigkeit müssen sich die Opfer von einst fürchten, gibt es doch zu viele Parallelen, die die Ausführenden nicht sehen wollen beziehungsweise die die Ausführenden leugnen so gemeint zu haben. Wie die Täter müssen auch Opfer ihre Sprache modernisieren, um nicht Gefahr zu laufen, dass – wegen der Monologität der Opfersprache – über sie nur noch gelacht wird und sie pro forma einfach nicht mehr wahrnimmt. Siehe besagter Bericht zum Antisemitismus 2.0: Kaum 24 Stunden später war er komplett aus den Medien raus und das bei der Zahl der Opfer.

Autor: makkerrony

Der Macher des Lichtbildprophet ist ein bekennender Autodidakt, lebt in Berlin und geht seit mehr als zwanzig Jahren dem Hobby (Analog-)Fotografie nach. Sein Dilettantismus hat gereicht, in fünfzehn Jahre ca. 150 Artikel für Fotofachzeitschriften und vier Bücher, alles auf Papier gedruckt erschienen, zu schreiben.