Netzfrei

Ich bewundere Zeitgenossen, die ohne Internet leben können. Ganz in der Realität, ohne zweites Ich. Nicht auf Antidepressiva oder in der Geschlossenen. „Wer heute cool ist, ist nicht bei Facebook angemeldet …“ habe ich letzte Woche irgendwo gelesen.

Diese Cool-Definition ist auch so eine Herdentrieb-Kiste. Anders als die Anderen sein wollen = cool! Die Anti-Materie als Lebensraum vor Permanentrevoluzzer und notorisch querdenkende Individualisten. Egal was du tust, es passt in irgendeine Schublade. Ist die noch nicht gefunden, machen wir einfach ein neues Sammelbecken auf. Für die Allgemeinheit bedarf es der sauberen Trennung. Wie beim Müll.

Dennoch scheint etwas Wahres an der Verweigerungshaltung zu sein. Wer etwas Geistreiches zum Leben beiträgt, legt einen perfekt gekrümmten Bogen ums Internet hin. Kein Kampf um An- und Einsichten mit anonymen bis allwissenden Bürosessel-Potatos geführt, stattdessen die gute alte Schule der Live-Konversation. Intellektuelle Talk-Shows mit ohne Fernsehen.

Das Internet ist der Zapfhahn-Ersatz. In der Kneipe. Der Betrunkene hockt am Tresen und sucht die Nähe zum gelbgoldenen Hopfensaft. Auf Linie gebracht und immer mit neuem Stoff versorgt, redet es sich leichter. Klarer Vorteil WWW: Im Internet kann man nur verbal eins auf’s Maul bekommen.

Ich bin Internet! Ich muss Internet!

Anders könnte ich mich gar nicht öffentlich artikulieren und vielleicht auch ein paar Zuhörer generieren. Anders hätte ich nicht neue Dinge ausprobieren können. Dennoch proben Internet und ich jeden Tag den gegenseitigen Aufstand. Der lokale Bezug ist mir total verloren gegangen. Ich handle weltweit! Neue Dimensionen, neue Märkte! Was habe ich, gerade mal halbwegs dem Deutsch mächtig, im restlichen Ausland zu suchen?

Heerscharen von Zeitgenossen sind damit beschäftigt, die kleinste noch so unnütze Webseite im Suchmaschinen-Ranking nach oben zu pushen. Sie nennen sich SEO’s, agieren im noblen Fall von Hinterhofgaragen aus. Der Standard-SEO wohnt jedoch bei Mutti. Weibliche SEO’s leben im Zweckbündnis mit einem zahlungskräftigen Mann zusammen. Ein oder zwei Kind sorgen für gewisse Sicherheit, falls dem Göttergatte eines Tages die Subventionierung des Hausfrauen-Hobby als zu kostspielig erscheint.

Mutter mit Kind wegen der auflaufenden Kosten bei kaum nennenswerten Einnahmen einfach zu entsorgen, bringt heute mindestens einen Beitrag im Boulevard-TV oder eine Kleindarstellerrolle in der nachmittäglichen Reality-Soap. Jedenfalls entsteht bei mir dieses verschrobene Weltbild, wenn ich die Twitter-Profile einzelner Neu-Verfolger und deren virtuelle Web-Visitenkarten betrachte.

„Du musst mehr Werbung für dich machen. Twitter, Facebook, Internetforen!“ meine Agentin versucht mich für das Web 2.0 zu begeistern.

„Ich bin im Internet präsent. Manchen geht das, was man da so lesen kann schon viel zu weit. Auf der anderen Seite sondere ich ungern irgendwelchen Müll ab, nur um präsent zu zeigen.“

„Herr Lichtbildprophet, sie schreiben aber nur solch vulgäres Zeug. Das widert mich und ihre Leser schon an. So wird nie etwas aus ihnen.“

„Mag sein und dann sei es so. Ich sehe mich nur als Parodie auf jene Mitmenschen, die sich für unglaublich wichtig und bedeutsam halten, auf gebildet und wahnsinnig vornehm tun. Wenn die einen oder zwei über den Durst getrunken haben, werden sie so unnachahmlich ordinär, dass ich es zum Schreien finde. Aber das ist nur eine Facette des Lichtbildprophet’s.“

„So’nen Quatsch hab ich noch nie gehört.“

„Macht nichts. Die Existenz solcher Leute zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten. Beruf Hartz IV in einer seit Jahren ungekündigten Anstellung. Millionär durch Heirat und glückliche Scheidung nach drei Jahren. Man hat sich auseinandergelebt!“

„Ohne Internet und Social Network’s geht heute nichts mehr!“

„Das ist mir auch schon aufgefallen. Ich bemühe mich ja, daran teilzuhaben. Muss mir aber immer wieder die Frage stellen, in welchem Verhältnis Aufwand und Nutzen stehen?“

Ich liebe Diskussionen um dieses Nichts aus Glasfaserkabel und Computer. Ohne Zweifel hat das Gebilde Vorteile. Dummerweise steigen die Nachteile mit jeder neuen Verlinkung zum Quadrat an. Es geht nicht mehr nur um Informationen, rund um die Uhr abrufbar. Es geht um Macht, Geld und eine perfekte Selbstdarstellung!

„Nirgendwo finden sie mehr schizophren veranlagte Menschen als im Internet! Wer mit seinem echten Namen weltweit interagiert ist so etwas wie der Lepra-Kranke des Mittelalters. Ein Aussätziger“ lege ich nach. „Wenn das Internet einen Segen für die Menschheit gebracht hat, dann ist es das Recht auf eine zweite Persönlichkeit. Gott sei Dank ist die nur virtuell, braucht kein Essen, Wohnraum oder ne Arbeitsstelle. Wäre das nicht so, würde die Atemluft langsam knapp werden.“

„So können sie das nicht sehen, Lichtbildprophet. Ich kann mich bei Facebook mit Freunden verabreden, treffe alte Klassenkameraden wieder und knüpfe neue Geschäftsbeziehungen …“

„… die selten über das Stadium der Lippenbekenntnisse hinausgehen!“ unterbreche ich die Lobpreisung. „Internet ist ein Redundanzverstärker. Läuft mir auf der Straße eine Nullnummer über den Weg, erkenne ich sie jeder Zeit wieder und kann sie einfach ignorieren. Im Internet gibt sich die störende Rauschquelle einen neuen Namen, beginnt sein Spiel von vorn und macht sich noch nicht einmal die Mühe, seine Masche zu ändern. Irgendein Idiot fällt garantiert darauf rein.“

„Lichtbildprophet, ihre latente Weltuntergangsstimmung kotzt mich an!“

„Jetzt werden sie aber ordinär“ erwidere mit einem sanften Lächeln im Gesicht. „Unabhängig davon denke ich über mich genauso!“

„Einsicht ist der erste Weg zur Besserung. Arbeiten sie an sich!“

Das ist leichter gesagt als getan. Ich fühle mich nicht alt. Erst recht nicht wie ein Mann, der demnächst ein halbes Jahrhundert vollendet. Mit dem Alter schwand meine jugendliche Unbekümmertheit. Wobei ich mir die Frage stelle, ob diese nicht auch nur vorgetäuscht ist. Lese ich Gegenwartsliteratur, die jungen Wilden, kommt in jedem zweiten Satz das Wort Drogen oder eine neudeutsche Umschreibung der sinneserweiternden Substanzen darin vor. Meine Erfahrungen beschränken sich nur auf das legale Zeug wie Tabak und Alkohol. Zu mehr hat es bisher nicht gereicht. Neidfaktor?

Der Leser mag es kaum glauben, dass mir das Lachen sehr wichtig ist. Den Quell meiner Erheiterung liefert das wahre Leben. Mein Humor ist schwarz, garniert mit Sarkasmus. Gerne auch gegen mich selbst gerichtet. Anders wären die tagtäglichen Mogelpackungen des Lebens nicht zu ertragen.

„Warum soll ich an mich arbeiten? Find die Lieder der Download-Charts langweilig, sendereigene Mega-Blockbuster grottig und halte Light-Produkte für verkappte Mastmittel. Mc Donalds weltweiter Gleichgeschmack hat nichts mit Geschmack zu tun. Es sei denn, die Gewürzsauce hat wenigstens welchen. Solange der Staat bei hohen Benzin-Preisen mehr Steuern einnimmt, wird es ihm nicht einfallen sich in das Preisroulette einzumischen.“

„Aber das sind Sachen, die kann ein Lichtbildprophet auch nicht ändern!“

„Stimmt. Und sie sind vor allem nicht neu. Wenn die Dritten mal wieder „Ein Herz und eine Seele“ senden und der junge Zuschauer nicht weiß, das Krebs und Schubert schon tot sind, könnte man meinen, das freakige Quartett ist Vintage-Comedy und spielt in der Jetztzeit. Nur ohne Internet!“

Meine Argumentation ist etwas an den Haaren herbeigezogen. Man kann nicht so dumm denken, wie ohne Nachdenken gedacht wird!

Es gibt den einen oder anderen Lichtblick. So hätte ich es nie gedacht, dass 9Live jemals eingestellt wird. Obwohl! So ein ähnlicher Dummenfang der deutschen Fernsehgeschichte, Kanal Telemedial, konnte sich über Monate halten. Mit der Vorgeschichte des Machers hätte ich ihn noch während der ersten Sendung ins Aus befördert.

Stattdessen gab es für einen Energieausgleich im mehrstelligen Euro-Bereich hirnlosen Eso-Trash vom Feinsten. Jeden Abend ab 22 Uhr auf dem Kinderkanal habe ich auf den Moment gewartet, dass kleine grüne Aliens das Studio betreten. Ihren Knubbelfinger auf den Guru gerichtet, teleportieren sie die Jünger in eine andere Welt.

Stille!

Keiner da, der als Letzter das Licht und die Kameras ausschalten kann. Die Kerze auf dem Orange Table brennt herunter und noch viel weiter. Schwarzes Loch im weißen Rauch aus verbranntem Tischplattenholz. Und die ganze Nation könnte dabei zuschauen. Glücklicherweise sind wir vom Geruchsfernsehen weit entfernt.

Nun ist also 9Live dran. Dummenfang auf einem ganz anderen Niveau. Hyperaktive junge Moderatoren im Auftrag erhöhter Telefongebühren und der Glücksleitung. Für sie spielt es keine Rolle, wie sie ihr Geld verdienen. Ich möchte nicht wissen, wie viele Tonnen Drogen in den Klo’s geschnupft wurden. Anders kann man nicht derart durchgeknallt und verplant drauf sein. Gab es da keine Mutter, die ihrem Ableger für solche Auftritte in der Öffentlichkeit die Ohren lang ziehen wollte?

Gewalt ist keine Lösung!

Ich bin auf dem Holzweg. Die Zauberformel heisst Ausblenden, ohne Nachdenken!

Stell dir vor es ist Krieg und keiner geht hin! Idealistengeschwafel wie „Schwerter zu Pflugscharen“. Neulich meinte Tina zu mir, sie schraubt einfach ihre Erwartungen gegen Null. Dann fällt die Enttäuschung deutlich geringer aus.

Auch ne Lösung!

Vielleicht sollte ich es mal mit dem Ansatz probieren!

Autor: makkerrony

Der Macher des Lichtbildprophet ist ein bekennender Autodidakt, lebt in Berlin und geht seit mehr als zwanzig Jahren dem Hobby (Analog-)Fotografie nach. Sein Dilettantismus hat gereicht, in fünfzehn Jahre ca. 150 Artikel für Fotofachzeitschriften und vier Bücher, alles auf Papier gedruckt erschienen, zu schreiben.