Der Vortrag

Der Abend bricht über Berlin herein. Mich hat es auf die Wohnlandschaft verschlagen, in meine angestammte Ecke mit dem Gerade-aus-Blick auf das TV-Gerät. In der rechten Hand halte ich locker-lässig die “Macht”. Keiner kann mir heute die Fernbedienung streitig machen oder mich so verbal nerven, dass ich irgendetwas gegen meinen Willen visuell konsumieren muss.

Was waren das noch für Zeiten, als man zum Ein-, Um- und Ausschalten direkt zum TV-Gerät laufen musste. Dasselbe gilt für Laut oder Leise. Dann gab es damals noch den Konverter, um das Zweite empfangen zu können. Heute ziert ein DVB-T-Empfänger den Platz. Das Überall-Fernsehen. Mehr Programme in bester digitaler Qualität. Weshalb dürfen manche Zeitgenossen so ungestraft lügen? Die aktive Antenne schaut direkt auf den Berliner Fernsehturm. TV-Genuss mit Klötzer im Bild und bitte lass das Wetter mitspielen. Ich möchte das analoge Fernsehen zurück!

Ein blinkendes iPhone lenkt mich von der ausgestrahlten Dokumentationslektüre ab. Wiedermal wird versucht, die Geschichte eines Österreichers in Deutschland nachzuzeichnen um am Ende herauszufinden, wie er sich im Vergleich mit anderen historischen Despoten menschlicher Zeitrechnung schlägt. Ich ziehe das blinkende iPhone vor.

“Hallo. Spreche ich mit dem Lichtbildprophet?”
“Wenn sie wollen, ja! Sie dürfen mich auch bei meinem richtigen Namen nennen. Das wäre mir lieber. Marvin ist so etwas wie mein unsichtbarer weißer Hase Harvey.”
“Ach, das ist ja lustig!”

Was ist am Eingeständnis der eigenen Schizophrenie lustig? Ich finde dieses Aliassen grauenvoll. So wie “Jeder Mensch hat ein Recht auf eine zweite geheime Identität!”. Auf einem Schlag würde sich die Erdbevölkerung verdoppeln. Wovon soll sich der plötzliche Zuwuchs (nicht Zuwachs) ernähren? Wie werden die Gespräche in Zukunft verlaufen? “Mit wem spreche ich gerade? Mit ihnen persönlich oder mit ihrem Harvey?”.

Ich schweife gedanklich ab. Stattdessen möchte ich, dass der mir noch unbekannte Anrufer auf den Punkt kommt.

“Was kann ich für sie tun?”
“Also ich beobachte sie schon eine Weile.”
“Was?”
“Nicht so wie sie denken. Keine Sorge, ich bin kein Stalker. Ich meine, ich kenne ihre Bücher, was sie schreiben und ihre Fotos.”

Ich bin erleichtert: “Dagegen ist nichts einzuwenden.”
“Ich möchte sie zu unserer nächsten Convention einladen und sie bitten, dort einen Vortrag zu halten.”
“Convention?”

Unser bisheriges Gespräch verlief in deutscher Sprache. Mit ihr bin ich seit 48 Jahren aufgewachsen und beherrsche sie halbwegs. Wenn sich andere deutschsprachige Mitmenschen zu einer Tagung sammeln, dann können sie die Zusammenkunft ruhig mit ihrem deutschen Namen benennen. Das Verdenglischen macht die Angelegenheit nicht interessanter oder uninteressanter.

“Ein Kongress zum Thema Fotografie, mit Fachvorträgen und Workshops.”
“Und worüber soll ich philosophieren?”
“Mit ihrer Begeisterung für die analoge Fotografie entwickeln sie sich gerade Aufzeichnungsmäßig zurück und darüber sollen sie berichten. Warum und was besser am Analogen ist.”

Das mit dem “zurückentwickeln” überhöre ich.

“Nichts ist am Analogen besser. Ich schöpfe lediglich die Möglichkeiten des Mediums Film für mich aus. Analoge Kameras sind günstig in der Anschaffung und gerade die älteren Exemplare sind nicht so auf Perfektion getrimmt wie ihre digitalen Enkel.”
“Genau darüber sollen sie berichten. Warum ist das Analoge nicht tot zu kriegen.”
“Ich denke, dass ich der falsche Ansprechpartner für sie bin. Ich verletzte alle guten Regeln der Fotografie und davon kenne ich noch viel zu wenig.”
“Berichten Sie über ihre Arbeit. Es wird viele Teilnehmer interessieren, was sie anders machen.”
“Meinen sie mit Arbeit die Fotografie?”
“Ja, und das Schreiben darüber.”
“Das ist nicht meine Arbeit. Es ist einfach nur ein Hobby von mir. So wie andere Stöcke in die Hand nehmen, durch die Botanik hasten und es Nordic Walking nennen. Oder die Sportschau gucken, dabei Bier trinken und meinen Fussball-Fan zu sein.”
“Ich dachte sie sind selbstständig tätig und verdienen damit ihren Lebensunterhalt.”
“Schön wäre es. Aber mal unter uns: Würden Sie meine Fotografien kaufen oder so einen Eigenbrödler wie mich in ihrer Firma anstellen?”

In dem Moment erwarte ich keine ehrliche Antwort. Warum auch. Mein unbekannter Telefonpartner möchte etwas von mir und da wäre es für den weiteren Verlauf unserer Konversation denkbar ungünstig, die Wahrheit auszusprechen. Wenn ich mit Reichtum überhäuft werde, dann ist es mit Interessensbekundungen.

“Ich melde mich am Ende der Woche bei dir und dann machen wir einen Termin klar. Versprochen!”.

Danach vergehen Wochen, Tage und manchmal auch Jahre.

“Die Convention organisiere ich ja auch nur nebenbei. Nach der Arbeit.”

Es kommt doch so etwas wie eine gewisse Ehrlichkeit auf. Von den zahlreichen Foto-Bekanntschaften, die ich im Laufe der Jahre machen durfte, war nur ein verschwindet kleiner Teil gelernt und hauptberuflich als Fotograf, Autor oder was auch immer tätig.

“Dann geht es ihnen so wie mir und wir müssen keine Elegie über das harte Leben als Möchtegern anstimmen. Aber mal im Ernst: Ich weiss wirklich nicht, was ich den Leuten sagen soll. Statt über Technik würde ich über meine emotionale Bindung zu einer Kamera schwafeln. Statt ein Loblied auf den Goldenen Schnitt anzustimmen, riefe ich zum kreativen Fehler machen auf. Wollen sie das ihren Teilnehmern zumuten?”
“Schade, sie wirken gerade auf mich sehr kompliziert und negativ eingestellt.”

“Das höre ich nicht zum ersten Mal und ich fühle mich schon geehrt, dass sie das so offen zu mir sagen. Ich wollte sie nur vorwarnen, was sie unter Umständen erwartet. Klar geht es mir bei meinem Hobby um den Spaßfaktor. Das heisst aber noch lange nicht, dass ich es nicht mit einer gewissen Ernsthaftigkeit betreibe. Ich krame zu gerne im Abfall der modernen Zeit und baue darauf meine Kunst auf … wenn ich es mal so nennen darf. Dass das nicht überall auf Verständnis, Gegenliebe und Akzeptanz stößt, ist mir klar und stört mich auch nicht. Wenn sie damit leben können, dann bin ich der richtige Mann für sie und ihre Convention.”

Stille, lediglich vom digitalen Rauschen gestört. Ich drücke die P+-Taste an meiner silbergrauen Macht. Obwohl niemand im Raum ist und ich die ganze Zeit telefoniere, habe ich die Fernbedienung nicht aus meiner Hand gelegt. Es gibt ein paar Errungenschaften der modernen Technik, auf die ich nicht verzichten möchte! Und so darf ich jetzt Horst Fuchs dabei beobachten, wie er mir eine weiß-grüne Bio-Bratpfanne mit Lotus-Effekt anzudrehen versucht, ohne vorher dafür aufstehen zu müssen. Was mich aber in dem Moment wirklich interessiert: Ist der gute Horst Fuchs mit seinem linksseitig baumelnden Ohrring eigentlich schwul?

In jungen Jahren hatte ich auch mal einen Ohrring getragen. Selbst gestochen, während eines Ferienausflugs! Selbst mir persönlich gegenüber kann ich absolut schmerzfrei sein. Mein Umfeld war geschockt. Es ergab sich, dass in diese pseudo-rebellische Zeit der gute West-Onkel zu Besuch war. Er sah mein Selbstgepierctes und fragte mich: “Junge, bist du schwul?” Auf meine Frage, wie er darauf käme, sagte er: “Jungs mit Ohrringe sind schwul. Aber du stehst doch auf Mädchen! Oder nicht …?”.

Mangels Erfahrung … Knutschen einmal ausgenommen … beteuerte ich, nur dem weiblichen Geschlecht zugetan zu sein. Vorerst behielt ich den Ohrring und die Sache war damit erledigt. Ein paar Jahre später starb mein Onkel, wodurch die sanft sprudelnde Quelle Westschokolade versiegte. Seine Schwester und meine Mutter in Personalunion durfte in den hessischen Westen reisen, Nachlass und Beerdigung regeln.

Als sie wieder in den DDR-Osten zurückgekehrt war, platzte die Bombe. Der liebe gute West-Onkel, der mit Urlaubsfotos prahlte, worauf auch barfüßige Frauen zu sehen waren, war stockschwul. Dementsprechendes Bildmaterial war beim Auflösen seines Haushaltes gefunden worden, sein aktueller Lover war ein junger Türke.

Dass mein Onkel den Männer zugetan war, hat mich nicht weiter gestört. Es lies ihn nicht in meinen Augen zu einem schlechten Menschen werden. Aber wie kommt er darauf, dass schwule Männer Ohrringe tragen? Wenn es wirklich an dem so ist: Warum trug er dann keinen? Die Frage bewegte mich und er konnte mir keine Antwort mehr darauf geben. Ich entledigte mich meines Statussymbols Ohrring.

In der Zwischenzeit gab es keinen weiteren Wortwechsel mit dem Anrufer. Auch wenn ich kontaktiert wurde und somit keine Telefongebühren zahlen muss, so kostet das gehaltlose Schweigen Akku-Kapazität. Und bis morgen Abend muss das iPhone noch durchhalten.

“Hören sie zu. Lassen sie sich die Sache mit mir noch einmal durch den Kopf gehen. Sehen sie sich nicht nur meine Fotos an, sondern versuchen sie auch den Weg dorthin zu erkennen. Wenn sie dann noch immer meinen, ich wäre der Richtige für ihre Tagung, dann schicken sie mir eine E-Mail. Schreiben sie rein, wer sie sind, um welche Convention es sich handelt, wo das Event stattfindet und wenn es ausserhalb von Berlin ist, ob sie die Kosten für Reise und Übernachtung übernehmen.”

“Ein guter Vorschlag. Ich melde mich bei ihnen, versprochen!”

Da war es wieder: VERSPROCHEN! Hat er sich mit dem Satz nur versprochen oder verspricht mir der Anrufer etwas? Ich denke, in diesem Moment den Schlüssel zum stetig wiederkehrenden Missverständnis gefunden zu haben. Was ich als Versprechen interpretiere, meint man als versprechen im Sinne einen falschen Satz gesagt zu haben. Die Doppeldeutigkeit der deutschen Sprache ist etwas Feines und eröffnet wunderbare Interpretationsräume.

Mein Telefonpartner und ich wünschen uns gegenseitig einen schönen Abend. Einvernehmlich beenden wir das Gespräch. Mittlerweile soll ich im TV drei Tuben Super-Fleckweg-Mittel kaufen. Warum greift die Promoterin fast ausschließlich auf Jod als Ersatzflüssigkeit zurück? Und wieso soll ich für “Gratis mit dazu” eine kleine Bearbeitungsgebühr von 4 Euro 95 bezahlen?

Es ist der Abend der Erkenntnis. Mir geht ein weiteres kleines Licht auf. Wenn ich fürs Marketing zu blöd bin, kann niemals etwas aus mir werden. Diese Tuben-Trulla im Fernseher zeigt mir gerade wie es geht:

RUFEN SIE MICH AN!Nur hier und heute, streng limitiert! Meine ganz persönliche und handgeschriebene Signatur! Gegen eine kleine Bearbeitungsgebühr von 49,90 Euro erhalten Sie ein Motiv Ihrer Wahl als professionellen 30 x 45 cm Abzug GRATIS mit dazu.

Wenn jetzt nicht das Kunstgeschäft mit meinen imperfekten Depressions-Werken brummt, dann weiss ich auch nicht mehr!

UPDATE
Mittlerweile sind sechs Monate vergangen! Vom Convention-Organisator habe ich nichts mehr gehört. Genauso ging die Gratis gegen kleine Bearbeitungsgebühr-Aktion nach hinten los. An beiden Flops bin ich natürlich nicht schuld. Ich hatte eine Idee, wenn auch nur abgewandelt geklaut und durchschaue die miesen Verbaltricks mit der Doppeldeutigkeit. Vielmehr liegt mein Misserfolg an den Kulturbanausen da draußen vor den Bildschirmen. Die wissen eben nicht was wirklich gut und echte Kunst ist.

Autor: makkerrony

Makkerrony, der Macher des Lichtbildprophet, ist ein bekennender Autodidakt, lebt in Berlin und geht seit mehr als zwanzig Jahren dem Hobby (Analog-)Fotografie nach. Sein Dilettantismus hat gereicht, in fünfzehn Jahre ca. 150 Artikel für Fotofachzeitschriften und vier Bücher, alles auf Papier gedruckt erschienen, zu schreiben. Ein Mensch behauptete mal, Makkerrony sei ein guter Fotograf, hat allerdings einen denkwürdigen Geschmack. Jemand anderes meinte, Makkerrony könne einen Haufen Hundescheisse fotografieren und es sehe gut aus. Ein Model lehnte die Arbeit mit dem Lichtbildprophet ab, weil seine Bilder so aussehen, als müsse sich das Model anstrengen.