oder: Unsere moderne Überheblichkeit ist die Ursache allem Halbwissen
Seit meinem dritten Geburt-Tag befinde ich mich auf Orientierungskurs. Das ist nun über 19 Monate her. Optimistisch gesehen kann ich nicht klagen. Es sind Fortschritte da, kleine Fortschritte. Doch es bleiben die Bombertrichter, die trotz des darüber wachsenden Grases unpassend die Landschaft dominieren. Es hat so etwas von Hobbitland. Vielleicht sollte ich mir einen Hügel reservieren und darin meine Höhle integrieren. Meine eigene Höhle, ganz für mich allein. Denn es wird eine Schlafhöhle mit nur einem Fenster. Viel zu klein, dass da jemand sich reinstehlen kann.
Kaum sichtbar, dafür umso schmerzhafter, sind die Einschusslöcher. Letztlich führen sie zum Sprung, zum Riss in der Seele. Wohl der beste Kitt ist nicht gut genug, den Bruch so zu füllen, dass keine Narbe bleibt. Jeden Tag werde ich daran erinnert. Das Gesicht eincremen um die Narbe ‚Hautirritation‘ zu versorgen führt zwangsläufig die Hand am Hals vorbei. Jeden Tag wieder, jeden Tag auf’s neue. Ist da was, ist da nichts zu spüren? Oder ist da wieder was, auf der anderen Halsseite auch?
Wie soll ich mich bei diesen Gedanken auf anderes, Angenehmes, fokussieren können?
Uralte Negative neu interpretiert. Alte Techniken anwenden, soweit sie heute noch anwendbar sind. Ich lande bei Albumindruck und … Da ist mein nächstes Problem. Das vielleicht größere von allen Übeln der Lebensqualität nach dem Krebs: Eben noch ein Gedanke, klar und logisch, den Wimpernschlag später raus aus dem Kopf. Total weg, wie totgeschossen, eingeäschert und in alle Himmelsrichtungen verstreut. Diese Nebenerscheinung ist für mich weitaus schwerer zu ertragen als der tägliche Griff an den Hals und die von der Gürtelrose geschändeten Haut.
Albumindruck. Wikipedia-Erklärung als erster Einstieg. Inklusive Mutmaßungen eines Halbwissenden, der nicht in der Lage ist, den Kopiervorgang vom Negativ auf das Albuminpapier ohne einen Knoten in der schreibenden Zunge zu erklären. Ich schaue nach, welcher Quellen man sich bedient. Es sind, glücklicherweise, keine Onlinedokumente, die selbst nur halbwissend sind. Hier ist diesmal der gute alte Eder die Referenz. Einen Teil seiner Werke hat Google digitalisiert, die entsprechenden PDF’s geistern im weltweiten Netz herum.
Ich lande bei – Josef Maria – Eder, nur in einem anderen Band seines ‚Ausführliches Handbuch der Photographie‘. Ich mag seine praxisorientierte Sichtweise sowie das nüchterne Belegen von Fakten. Im Ergebnis gibt es nicht die heute übliche ‚Du musst das so machen‘-Sichtweise, sondern eine Anhäufung von Herangehensweisen die es mir erlaubt, selbst zu bestimmen was ich mit dem photochemischen Prozess anstellen will. Keine fünf Minuten Lebenszeitverschwendung für ein Youtube-Video eines Influencers, dessen Quintessenz sich eigentlich auf schlappe fünf Sekunden reduzieren lässt.
Mich ziehen – noch immer im Eder gefangen – gesammelte Erfahrungen zur Schwärzungskurve in den Bann. Heutige Publikationen zeigen in der Regel den S-Verlauf, wobei am oberen Abfall gespart wird. Meines Erachtens habe ich – unter den modernen Wissenschaftsliteraten – lediglich im Marchesi lesen dürfen, dass die Schwärzung auch ohne Entwickler machbar ist. Eder philosophiert darüber, den abfallenden Ast der Schwärzungskurve zu entwickeln. Er geht in seiner Sammlung der Erfahrung sogar soweit, dass die Umkehr bis zum Positiv getrieben werden kann.
Solarisation! Ohne die neumodische Unterteilung in ‚echte‘ und Pseudo-Solarisation. Mehrere Varianten werden vorgestellt UND Namen derer genannt, die ein Verfahren gefunden beziehungsweise bestätigt haben. Freudetrunken könnte ich alles stehen und liegen lassen, ins Atelier stürmen und aus den knappen, dennoch präzisen Angaben einen Versuchsplan schmieden. Warum ging so etwas damals? Warum geht so etwas heute nicht mehr? Schaue ich mir an, was heute in der ‚Fachliteratur‘ zur Solarisation/Pseudo-Solarisation geschrieben wird, warum verheimlichen die Schreibakteure weitere Wege?
Heutige Autoren sind einfach nur Scheinwissende! Sie sind Sklaven der Verlage oder der sozialen Medien. Wissen muss nicht belegbar sein, alternative Fakten bedürfen keines Beweises, keines strapazierfähigen Beleges. Und genau da liegt das Problem: Wissen macht nicht sexy! Aber der unwissende Erste und Lauteste unter den Idioten zu sein, das kommt gut an. Denn nur wer dumm ist stellt keine kritischen Fragen.
Selbst meinen großen Literaturfavoriten, Edwin Mutter und sein Kompendium der Photographie, muss ich heute als ein zu sehr gestrafftes Wissenswerk ansehen. Die Facetten und Feinheiten, die sich über die Norm hinaus ergeben und die vom Autor verlangen, erst das selbst zu tun worüber er später schreibt, sind einfach nicht gegeben. Es ist unsere Überheblichkeit, dass die Moderne der Heilsbringer ist. Als das kleine Wissen, die scheinbar nebensächlichen Dinge die ‚par odre du mufti‘ abgelöst sind, werden als für immer unwichtig und redundant abgetan. Doch irgendwann ist das Wissen verloren und wir stehen wie heute vor den Pyramiden und wundern uns, wie diese ‚rückständigen‘ Ägypter solche kolossalen Bauwerke errichten konnten. Würde uns endlich jemand diese Arroganz der Neuzeit austreiben, wir wüsste wie einfach es mit noch viel einfacheren Mittels als heute ist.
Über die Wahl der (Über-)Expositionszeit und dem Entwickler einschließlich seiner Konzentration lassen sich Solarisationseffekte auch ohne umständliche Zweitbelichtung erzeugen. Entscheidend ist die Länge der Überbelichtung. Den Gedanken, gewonnen aus dem Eder und seinem praxisorientierten Wissens-Pamphlet von vor über 100 Jahren, greife ich demnächst im Atelier auf. Ich erinnere mich an Man Ray und seinen Solarisationswerken. Nach dem Muster, wie heute die Schein-Fachliteratur darüber schreibt, können sie so nicht entstanden sein. Eher vermute ich, Man Ray ist den von Eder beschriebenen Weg gegangen.
Eders Hand- und Jahrbücher sind sicherlich einzigartig. Zum einen durch den Autor, der akribisch festhielt, was in den Anfangstagen der Fotografie alles entdeckt wurde. Zum anderen durch die Zeit selbst und den Entdeckergeist derer, die sich für die neue Technik Fotografie begeisterten. Alles war möglich, ein straffes und verbohrtes Gesetzeswerk, wie wir es heute unter den hilfsprofessionellen Lichtbildnern kennen, gab es nicht. Jede Aufnahme war ein Wagnis, jeder Prozessschritt nicht von Massenware begleitet. Ich fühle mich an die Wendezeit in der DDR als auch in die Zeit der Neuen Bundesländer erinnert. Alles war irgendwie möglich. Da war doch was: Richtig, das eigentliche Thema Albumindruck.
Er soll damals sehr beliebt gewesen sein. Wie Kabinettkarten. Da ist das Wort, was mir vorhin – Chemobrain bedingt – entfallen ist. Ich glaube die heute angenommene ‚Beliebtheit‘ ist allein darin begründet, dass die Grundlage – das Albuminpapier – massenhaft hergestellt wurde. Für andere Prozesse, zum Beispiel den heute üblichen Negativ-Positivprozess, fehlte es an der ‚billigen‘ Massenware. Damals, also zu Eders Zeiten, spielten gerade die sogenannten Kopierprozesse eine große Rolle. Heute sind dieselben Techniken nicht mehr so gefragt und von der fotografischen Elite zum Edeldruckverfahren erhoben. Ich fühle mich stark an die Superfoods der heutigen Zeit erinnert. Augenwischerei.
Noch etwas stößt mir angenehm beim Studium des Eders auf: Die groben chemischen Abläufe sind bekannt. Feinheiten, die am Rande dessen ablaufen (ich denke da an meine Farbigkeit), darüber wurde damals wie heute gemutmaßt. Fakt ist doch, dass neben metallischem Silber (= schwarz im Papierbild) in Spuren auch Silberverbindungen vorkommen. Diese haben nicht die Größe des Silberkorns, reflektieren aber je nach deren chemischer Zusammensetzung weißes Licht in einer gewissen Tonung. Fingernagel (metallisches Silber) und Nagellack (Silberverbindung) darauf. Ohne diese Spuren von Silber und die chemischen Bestandteile wie zum Beispiel Schwefel, kommt es nicht zur Farbigkeit. Selbige ist ein Fakt, der auf der Wellenoptik beruht. Die Sache ist doch relativ logisch: Bei der mittlerweile üblichen Turboentwicklung wird möglichst schnell möglichst viel metallisches Silber erzeugt. Der Neuzeitmensch möchte es ja sehr kontrastbetont. ‚Quäle‘ ich dagegen chemisch einen belichteten Abzug, kam es schon immer zur Farbigkeit. Das Silber sucht sich andere Verbindungen, ist es doch ein relativ unreines Edel-(Übergangs)metall. Ich rede nicht vom Färben des Papiers a la der Caffenol-Fraktion.
Ich komme in Gedanken auf das Direktpositivpapier. Es müsste und – für mich – liegt es auf dieser Linie Schwärzungskurve und welchen Kurvenzug nutze ich für ein fotografisches Bild. Über das Sinnieren, ja selbst über den Frust der heute ach so schnelllebigen wie auch verlogenen Zeit, schweifen meine Gedanken von den eigentlichen Problemen ab. Trotzdem bleibt die Ernüchterung. Was nutzt uns das Entschleunigen, aus Bequemlichkeit Yogi mit Yogakurs werden, die Suche und das Klammern an eine verschwendete Liebe, wenn wir wieder und wieder vergessen, wie unser Weg zur Krönung der Schöpfung wirklich verlaufen ist. Wir Menschen sind und bleiben ein elitäres und arrogantes Gesinde!