Eingetragene Fahrgemeinschaft

Preussisch korrekt verlasse ich jeden Werktag zur selben Zeit mein Domizil. Der Grund ist nicht Perfektionsdrang, sondern Bequemlichkeit. Ohne diese Präzision müsste ich im Worst Case-Szenario 20 Minuten auf die nächste Tram warten.

Ich lebe nicht allein mit dem Problem. Anderen öffentlich Reisenden geht es genauso. Ohne uns zu kennen, kreuzen sich unsere Wege immer an derselben Stelle, zur gleichen Zeit. Wir bilden eine Fahrgemeinschaft und das mit nahezu konstanter Boshaftigkeit.

Same procedure than every working day!

Wie in jeder guten Lebensgemeinschaft bilden sich Gewohnheiten aus. Marotten von spleenig bis “man nimmt sie des geliebten Friedenswillen” hin. Dazu gehört der Stammsitzplatz. Das hat gewisse Vorteile. Ich könnte plötzlich erblindet die Tram besteigen. Gleich links sitzt die Mitfünfzigerin, die fünf Stationen später aussteigt. Wenn sie ihren Einzel-Stammplatz verlässt, wechselt Madame von der Vierer-Sitzgruppe dorthin und verlässt einen Haltepunkt vor meinem Ziel die Straßenbahn. Und so könnte ich unter allen Mitgliedern meiner anonymen Fahrgemeinschaft vorhersagen, was wann und wie geschieht.

Ausnahmen bestätigen die Regel!

Der Gemeinschaftsfrieden wird nur von Spontan-Mitfahrern gestört. Sie sind unhöflich und rücksichtslos. In meiner Kinderstube habe ich gelernt, mich als Neuling vorzustellen und jedem die Hand zu geben. So habe ich es jedenfalls damals gehalten, als ich zum ersten Mal die neue Strecke gefahren bin.

Der Tram-Führer öffnet die Türe. Ich bleibe solange draussen stehen, bis alle Wartenden eingestiegen sind. Es folgt ein beherzter Schritt in den Fahrgast-Fond und mit kräftig-freundlicher Stimme stelle ich mich vor:

“Guten Morgen, mein Pseudonym ist Ronaldo Capybara, nebenberuflich engagierter Künstler und Akt-Lichtbildner. Meine Dienststelle wurde verlegt und ich werde von nun an immer die Linie um diese Zeit nutzen. Ich fahre bis Wilhelminenhof. Wo darf ich mich hinsetzen?

Für die Nummer ernte ich ungläubige Blicke. Die Ausnahme sind jene Reisende, die sich per iPod & Co. von der normalen Geräuschkulisse einer fahrenden Tram abkapseln. Sie bekommen meine Vorstellung zwangsläufig nicht mit. Pech, auch wenn es nicht wenige sind. Also beginne ich von vorn und schüttle jedem Mitreisenden die Hand.

“Capybara. Wie Wasserschwein auf deutsch. Ronaldo Capybara. Die nächsten Jahre werd ich hier wohl öfter mitfahren!”

Um die blonde Straßenbahn-Fahrerin nicht von ihrer Arbeit und Konzentration abzulenken, klopfe ich gegen die Innenscheibe und hebe kurz die Hand zum Gruß.

Bevor wir die nächste Haltestelle erreichen, finde ich einen Sitzplatz auf der vorderen Dreier-Kombi. Noch einmal lasse ich meinen Blick schweifen und resümiere, dass wir eine überschaubare Fahrgemeinschaft bilden. Beruhigt schließe ich mich der MP3-Gruppe an.

Jedem seine eigne Musikberieselung, auch wenn sie wenig zum Gemeinschaftsgefühl beiträgt. Ohnehin muss ich feststellen, dass die öffentlichen Berliner Verkehrsbetriebe wenig von Fahrgruppendynamik zu halten scheint. Eine ausgewogene Musikbeschallung über die Lautsprecheranlage macht “Jedem seinen iPod” hinfällig. Das schmälert zwar Apples Gewinn, doch nur in der Gemeinschaft sind wir stark.

Szenenwechsel

Wenn ich mal in Deutschland unterwegs bin, bevorzuge ich das Fliegen.

Ökologische Katastrophe, Bequemlichkeit und billig!

So ein innerdeutscher Flug von Berlin aus dauert kaum eine Stunde. Ich verbringe mehr Wartezeit beim Check-In und den Kontrollen. Die ganze Sicherheitsprozedur hat dennoch schon was geiles an sich. Die Dame am Schalter setzt mich einzeln und in die Nähe der Tragflächen. Etwas mehr Gewicht auf die Waage zu bringen hat seinen Vorteil.

Wir heben ab, Druck auf meinen empfindlichen leeren Magen. Die Maschine befindet sich noch im offiziellen Steigflug, da kommen auch schon die Stewardessen mit ihren Alu-Rollcontainern an.

“Kaffee, Orangensaft, Coca Cola oder Wasser?”

Ich möchte den Höhepunkt meiner Snack-Bedienung solange wie möglich hinauszögern. Erst in fünf Tagen fliege ich wieder zurück und brauche jetzt das volle Service-Programm mit dem Douglas-Lächeln der bereits leicht angereiften Flugbegleiterin.

“Kaffee, bitte”

“Wollen Sie den Kaffee schwarz oder mit Milch”

“Schwarz, bitte”

“Zucker?”

“Ohne!”

“Wollen Sie zu Ihrem Kaffee einen kleinen Snack?”

“Was haben Sie den heute im Angebot?”

“Erdnüsse oder Salzstangen.”

Beides passt überhaupt nicht zu einem schwarzen Kaffee. Erdnuss-Krümel schieben sich unter mein Gebiss, das Bord-Klo kostet Zeit und extra. Für Salzstangen bräuchte ich noch einen Viertelliter Wasser, das ist aber nicht in der Gratis-Snack-Verpflegung enthalten, wenn ich einen Kaffee nehme. Es bleibt ausserdem nicht die Zeit und kostet ebenfalls extra.

Kurze Konzentrationspause nach einem verbalen Vorspiel, es folgt der gesprochene Orgasmus.

“Nein danke, ich nehme nur den Kaffee schwarz und ohne Zucker!”

Die Stewardess befüllt einen Kunststoffbecher mit Kaffee aus der Thermoskanne. Gott sei Dank fliege ich nicht so oft und das Fliegerpersonal wechselt regelmäßig. Ansonsten würde herauskommen, dass ich nie einen Snack zum schwarzen Kaffee ohne Zucker nehme.

Jetzt heisst es, den halbwarmen Kaffee in möglichst kurzer Zeit dem eigenen Körper zuführen. Kaum sind alle Passagiere snacktechnisch versorgt, kündigt der Pilot die Sinkflug an. Meiner Sitzbank-Nachbarin ist die Hektik zu viel. Sie greift zur Tüte und würgt. Ich Idiot schaue auch noch hin!

Nachspiel!

Die Stewardessen rauschen mit blauen Großraum-Müllsäcken durch die Reihen und sammeln die Verpflegungsreste ein. Wer zum ersten Mal eine innerdeutsche Strecke fliegt und sich zuviel Zeit lässt, hat jetzt Pech gehabt. Alles muss jetzt rein ins Blaue.

Landung. Applaus fällt glücklicherweise aus. Gangway und warten auf das Gepäck. Diesmal musste ich meine Kamera nebst Objektive nicht vorzeigen. Der Sicherheitsdienst-Mitarbeiter hielt meine 300 mm-Kanone nicht für eine Bombenattrappe.

Durch den grünen Ausgang, der Zoll hat noch nicht einmal Position bezogen.

Schade!

Schnitt, wieder in meiner Stamm-Tram! Der Service lässt hier – im Vergleich zur Airline und bei annähernd gleichem Zeitkontingent – eindeutig zu wünschen übrig. Es fehlt nicht nur an der Fahrstuhl-Musik. Eine Kaffee-Bar wäre auch von Vorteil. Dann blieben mir morgendlich diese hässlichen Warmhalte-Kaffeebecher erspart! Die Tram ist, trotz verbietender Piktogramme im Eingangsbereich, zur Imbissbude verkommen. Ich denke, der Berliner interpretiert diese Hinweis als Dürferlaubnis denn als ein Verbot des Trambesitzers.

Mir gegen über sitzt so ein junges Ding. Sexuell gesehen attraktiv, aber bitte nicht um diese Tageszeit. Gestern hatte sie noch langes blondes und vor allem glattes Haar. Über Nacht muss sie die Bekanntschaft mit Lockenwicklern gemacht haben. Die Selfmade-Lockenluder-Mähne sieht einfach nur schrecklich aus und kann keinem gelernten Friseur entsprungen sein. Außerdem hält sie einen Warmhalte-Kaffeebecher in der Hand. Mein persönliches No Go, was jede weitere sexuelle Fantasie mit ihr im Keim ersticken lässt!

Anfang des Jahres muss ich meinen Urlaubsplan für das neue Kalenderjahr einreichen. Dumme Sache, weiss ich selbst eine Woche vorher noch nicht, ob ich dieses Jahr überhaupt Urlaub nehme. 30 Tage Erholung im Jahr ist völlig überbewertet.

Ich möchte wissen, wann meine Mitfahrgemeinschaftsmitglieder in Urlaub gehen. So kann man die Reservierung der Stammplätze besser koordinieren und ich mache mir keine Sorgen, wenn eines Morgens ein Platz urlaubsbedingt frei bleibt.

Word-Dokument, Überschrift: Urlaubsplan 2020, Tabelle, Name, Vorname, geplanter Urlaubsbeginn, geplantes Urlaubsende und Urlaubsziel*.

* Angabe freiwillig!

Ich lasse die Liste in der Tram rumgehen und bitte meine Mitreisenden, sie mir bis Wilhelminenhof zurückzugeben. Darauf warte ich bis heute vergebens.

Ein elementares Service-Problem sind wechselnden Tram-Fahrer!

Der Schleicher!
Entweder unter Valium oder von Hause aus phlegmatisch. Am liebsten möchte ich aussteigen und die Straßenbahn schieben. Das wäre garantiert schneller. Bei dem Schneckentempo muss ich mit mindestens fünf Minuten Verspätung rechnen.

Der Raser!
Voll auf Red Bull oder andere stark koffeinhaltige Getränke. Lieblingsbeschäftigung: An Ampelkreuzungen Autos jagen, die Dunkelorange für gesättigtes Grün halten. Echte Fieslinge unter den Tram-Rasern machen auch vor Menschen keinen halt. Nur meiner philanthropischen Grundeinstellung und dem Fehlen eines Tram-Führerscheins ist es zu verdanken, dass ich ihr Spielchen nicht mit ihnen selbst spiele.

Frage: Brauchen Tram-Fahrer zum Steuern des Stahl-Kolosses beide Beine? Wenn nein, dann denke ich mal über das illegale Kapern einer Tram nach! Was das mit einem Einbeinigen zu tun hat weiß ich nicht. Aber man wird ja mal solch eine Frage stellen dürfen, oder ist das schon body shaming?

Rasende Tram-Fahrer, die das Gleisbett mit einer Rennpiste verwechseln, sind bezüglich der Fahrzeit schwer berechenbar. Zucken Autofahrer und Fussgänger rechtzeitig zurück, wird der offizielle Fahrplan deutlich unterboten. Frust! Wer zwar pünktlich an der Haltestelle steht, ist dennoch zu spät. Und den bestraft das reisende Leben.

Hält ein Auto und Landstreicher dem Geschwindigkeitswahn dagegen oder wird von der zügigen Fahrweise des Hilfs-Schumis überrascht, kann sich die Ankunft um Stunden hinauszögern.

“Du fährst wie ne Fotze”-Fahrer!

Der Spruch stammt nicht von mir. Eines Morgens sass ein Fremder in meiner Stamm-Tram. Seinem Alkoholisierungsgrad und Körpergeruch nach zu urteilen, hatte er entweder eine 48 Stunden-Sause hinter sich oder erhebliche soziale Probleme.

Die Stinkbombe verlegte sein Flüssig-Frühstück in die Tram. Dazu nippte er gelegentlich an einer Flasche Braunen und gab danach undefinierbare Geräusche von sich. Sein gegen die Fahrgemeinschaft gerichtetes Verhalten hat einen Vorteil. Zumindest für ihn. Niemand wollte sich in seine Vierer-Sitzgruppe setzen.

Der Tram-Führer legte einen Fahrstil an den Tag, der dem eines Betrunkenen gleichzusetzen war. Anfahren und bremsen wie ein Möchtegern-Formel 1-Bolide. Front- und Heckflügel aussen angepappt, Werbung klebt ja bereits am Tram-Chassis und ich hätte vor dem Zustieg bereits gewusst, was mich vom Fahrstil her die nächsten 30 Minuten erwartet.

Wären in Straßenbahnen Sicherheitsgurte Pflicht, hätte ich nichts gegen eine solche Schütteltour einzuwenden. Das hält wach, wenn der Morgenkaffee in seiner Wirkung versagt hat. Und so wechseln vor allem die Stehpassagiere bei jedem abrupten Bremsmanöver die Position um ein bis zwei Meter in Fahrtrichtung.

Das war selbst dem sitzenden Besoffenen zu viel. Verständlich, findet er so keinen menschlichen Orientierungspunkt. In einem halbwegs ruhigen Moment steht er auf und bittet per Klopfzeichen beim Tram-Fahrer um Gehör. Es folgte jener legendäre Satz, der fortan als Bezeichnung für diese Kategorie Tram-Fahrer gilt.

Meine Fahrgemeinschaft ist beziehungstolerant. Kein Mitglied muss, kann, möchte oder will jeden Tag mit uns mitfahren. Ich bin für die offene Beziehung, selbst wenn ich zu 90% monogam nur mit dieser einen Tram fahre.

Junges Weibchen, offene lange schwarze Haare. Mit lässiger Kopfdrehung sortiert sie die Haarpracht wie eine Gardine im Wind. Sie hat so etwas von Pocahontas kleiner Schwester.

Pocahontas Schwester pflegt eine offene Gemeinschaftsbeziehung. Ist sie mit dabei, schaut das langhaarige Reh scheu aus dem Fenster und lässt nur gelegentlich ihren unschuldigen Blick im Tram-Inneren schweifen. Offene Fahrbeziehungen haben ihre Nachteile. Es ist nicht Eifersucht, was das Zusammenfahren so schwer macht. Nach langen Abwesenheitsphasen fremdelt es im Kontaktaufbau. So weiß ich vom schwarzhaarigen Bambi nicht, wo sie zusteigt und wohin sie fährt.

Mittlerweile habe ich den Gedanken an eine Heimfahrt-Fahrgemeinschaft aufgegeben. Es lässt sich keine Kontinuität hineinbringen. Immer wieder stören Hartz IV-ler und ihr asoziales Verhalten das Gruppengefühl. Hund, Eltern, mindestens zwei halbwüchsige Kinder und ein Frischling im Second-Hand-Buggy gehören einfach nicht zu uns. Vollgepackte ALDI-Tüten sind ebenso wenig das Niveau einer Vollzeit arbeitenden Bevölkerungsschicht.

Dazu gesellen sich Rentner, die aus meiner Sicht öffentliche Verkehrsmittel nur ausserhalb der Stoßzeiten nutzen dürften. Vor der Tram noch auf Krücken lahmend, entwickeln sie in der Straßenbahn beachtliche Sprinterqualitäten, wenn es um einen Sitzplatz geht. Solch egoistisches Verhalten passt genauso wenig in das Bild einer ordentlichen deutschen Fahrgemeinschaft.

Autor: makkerrony

Makkerrony, der Macher des Lichtbildprophet, ist ein bekennender Autodidakt, lebt in Berlin und geht seit mehr als zwanzig Jahren dem Hobby (Analog-)Fotografie nach. Sein Dilettantismus hat gereicht, in fünfzehn Jahre ca. 150 Artikel für Fotofachzeitschriften und vier Bücher, alles auf Papier gedruckt erschienen, zu schreiben. Ein Mensch behauptete mal, Makkerrony sei ein guter Fotograf, hat allerdings einen denkwürdigen Geschmack. Jemand anderes meinte, Makkerrony könne einen Haufen Hundescheisse fotografieren und es sehe gut aus. Ein Model lehnte die Arbeit mit dem Lichtbildprophet ab, weil seine Bilder so aussehen, als müsse sich das Model anstrengen.