Unsensibilisiert

Mein Fotopapierlager quillt über, denn in den letzten Monaten habe ich altes ORWO Fotopapier, zum Schluss auch unsensibilisierten ORWO Fotofilm gehortet. Gern hätte ich mehr ORWO Dokumentenpapier angehäuft, aber das ist ziemlich rar. Mir gefällt dessen braune Note, wird es etwas länger belichtet und anschließend im Lith-Entwickler gebadet. Um mich nicht in Versuchung zu bringen, noch mehr ORWO Material zu bunkern, schließe ich kurzerhand meinen ebay-Konto. Es werden ein paar Tage vergehen, bis es gänzlich dem Nirvana des Internets übereignet ist. Dann hoffe ich aber Ruhe vor den nervigen Warnungen zur Sicherheit zu haben. Zusammen mit den modernen Fotopapieren ist soviel Positivmaterial da, dass es schein-ewig dauern wird, bis alles aufgebraucht ist.

Mir fällt der Schinken ‚Die Theoretischen Grundlagen der Photographischen Prozesse‘ von Hay in die Hände. Eigentlich bin ich auf der Suche nach Informationen zur Lippmann-Emulsion und ihren zahlreichen Varianten. Mich interessiert der unsensibilisierte Typ, weil ich gerade die Härte einer blauempfindlichen Emulsion mit Nanopartikel brauche. In dem Buch fällt mir auf, dass der Autor auf den Positivprozess eingeht. Nicht nur allein auf Silberhalogenid-Basis, es werden auch Verfahren behandelt, die heute ‚Edeldruck‘ sind. Beim Blättern und Lesen wandelt sich mein Wohlgefallen für alte Meister in Abneigung dem Werk gegenüber. Es hat etwas von Besserwissertum und Klugscheißerelite. Mutter kratzt in seinem Meisterwerk wenigstens an, dass es da noch andere Dinge gibt und lässt den Leser dann allein. Hay hat nur Perfektion, Perfektion und nochmals Perfektion in Schwarzweiß im Auge. LANGWEILIG!

Alchemie – Die Lehre von den Stoffeigenschaften und deren Reaktionen. Irgendwie sehe ich mich auf diesem naturphilosophischen Zweig wandeln, mit dem Licht als das allerheiligste Eine des Universums. Das klingt – für einen alten Atheisten – durchgeknallt und megareligiös angehaucht. Auf der anderen Seite wehre ich mich gegen binäres Denken, welches nur die Gegensätze aus gut und böse, dafür oder dagegen und so weiter kennt. Es gibt das dazwischen: Willst du mit mir gehen, ja, nein oder vielleicht. Wer sich mit der Fotochemie beschäftigt weiß auch, dass zwar viel mit Formeln beschrieben wird, einige Vorgänge noch heute reine Annahmen sind. Und da kommt die Alchemie, Stoffeigenschaften und deren Reaktionen ins Spiel. Ich bewege mich gern neben der Strecke, um den Standardweg herum. Er macht Schwarzweiß farbig und ich liebe insbesondere die Achse grün über braun bis hin zum rot. Der Photoalchemist ist in meiner gespaltenen Persönlichkeit erwacht.

In kleinen schöpferischen Pausen im Atelier bastle ich an meinen NegaPos. Die Aufnahmen nehme ich auf papierstarkem 13 x 18 ORWO Fotopapier auf, welches unter meinen Atelierbedingungen 1 Minuten belichtet und anschließend in einer über Tage abgestandenen Lith-Arbeitslösung entwickelt wird. Das ist – glaubt man den Helden der modernen Analogfotografie – Alchemie pur, was mir wiederum völlig egal ist. Belichtung und Arbeitslösung müssen so angepaßt werden, dass am Ende der Entwicklung ein Lichtbild ensteht. Der Ansatz gibt mehr Spielraum als auf dem Rezeptzettel der Hersteller steht. Nur im Vergeuden ihrer teuren Soßen verdienen sie Geld. Das NegaPos lege ich dabei so an, dass es auf den ersten Blick nicht wie ein ‚Negativ‘ aussieht. Es könnte sehr wohl auch ein surreales Lichtbild sein. Im nächsten Schritt möchte ich NegaPos mit der Menschenfotografie und Bewegung kombinieren.

Beim PosaNeg greife ich auf den unsensibilisierten ORWO Fotofilm zurück. Lith-Entwicklung und Selentonung bringen in Kombination mit dem Farmerschen Abschwächer den geliebten Braunton. Das Ergebnis ruft in meinem Kopf historische Lichtbilder des Piktorialismus ab. Noch sind nicht alle Probleme gelöst: Beim Verkleben des transparenten Bildträgers mit dem Hintergrundpapier kommt es zu Lufteinschlüssen oder partiell mangelnder Haftung. Ich habe probiert die Stellen mit einem Fön zu erwärmen, was die Gelatine wieder flüssig macht. Für kurze Zeit kann ich so etwas Nachbessern. Doch am Ende soll die Lichtbildmalerei eine imperfekte Handarbeiten bleiben, weshalb ich bei den letzten Entwicklungen auf meinen DIY-Vergrößerer zurückgreife. Zur Schwere der Lith-Selen-Kombination kommt die Unschärfe des Fotografischen Depressionismus. Herrlich, ich fühle mich gut.

Im Ergebnis der letzten Monate räume ich mein Fotochemielager auf. Allerlei unnütze Spezialentwickler haben sich angesammelt, die ich wohl nie wieder brauchen werde. Rodinal für Negative deckt nun über Jahre mein benötigtes Spektrum ab. Nach alter Alchemisten-Fachliteratur soll mit dem heiligen Rodinal sogar Positiventwicklung drin sein. Natürlich ist das damit möglich, auch wenn ich selbst das noch nicht praktiziert habe. Positivmaterial wird entweder im Lith-Entwickler oder Moersch’s SE 1 Sepia gebadet. Selbst dem Moersch VGT Entwicklerbaukasten schwöre ich ab. Mit dem Black Hole hatte ich zwar ein interessantes Setup gefunden, doch in Summe war nicht jedes Negativ dafür geeignet und das Ergebnis eben nicht bunt. Das geht in meiner jetzigen Schaffensphase überhaupt nicht. Dann lieber Pyrogallol und sein Beizen des ORWO Fotopapier und der Gelatine.

2014 postulierte das dem Homo digitalis gottgleiche DOCMA den ‚Neuen Piktorialismus‘. Ausschlaggebend war wohl, dass der Digitalfotograf die Analogfotografie auf Materialien größer einem digitalen Bildsensor und die damit verbundene Unschärfe für sich entdeckt hat. Natürlich hat der ‚Neue Piktorialismus‘ auch Helden, großen Namen der ‚Neuen Deutschen Langeweile und Technikgläubigkeit‘. Es ist die mangelnde Liebe zum Sujet, die hoffnungslose Lieblosigkeit mit der die ‚Neuen Piktorialisten‘ teure Technik gegen das Gemüt der Seele auffahren. Sie schießen mit Kanonen auf Spatzen und kompensieren die Bequemlichkeit bei der Bildaufzeichnung mit wenigen Klicks einer schlechtgemachten Photoshop-Orgie.

Ach wie unsensibilisiert ich heute wieder bin. Es ist bestimmt purer Neid oder eine andere Wohlstandskrankheit die mich beim Schreiben des Traktats ereilt hat. Egal was es ist, PosaNeg ist für meine Verhältnisse ein langwieriges wie aufwändiges Verfahren. Doch die Ergebnisse sind im Bildausdruck und in der Haptik des fertigen Abzuges einzigartig. Und alles ohne Photoshop. Darum geht es mir.

Autor: makkerrony

Der Macher des Lichtbildprophet ist ein bekennender Autodidakt, lebt in Berlin und geht seit mehr als zwanzig Jahren dem Hobby (Analog-)Fotografie nach. Sein Dilettantismus hat gereicht, in fünfzehn Jahre ca. 150 Artikel für Fotofachzeitschriften und vier Bücher, alles auf Papier gedruckt erschienen, zu schreiben.