Pollenterror*

* Geschrieben 2011

Ich kann keinen klaren Gedanken fassen.

Die Nasenlöcher sind zu, so als steckten Tampons für Jungfrauen-Muschis drin. Jedes nasale Luft holen erzeugt ein seltsames Pfeifgeräusch. Ohne dem Wissen, dass es mir ansonsten gut geht, würde ich an meine letzten Atemzüge denken.

Augen. Zur Zeit leicht verklebt. Was davon trocknet, rieselt als feine Spreu in die Vorratslager der Hausstaubmilben. Habe Kopf, vom aufkeimenden Brechreiz möchte ich gar nicht erst reden.

Jubel, denn es ist Frühling! Zeit, meine sensorischen Fähigkeiten zu testen.

Ich reagiere auf das Geblühe da draussen. Die Hitze und Trockenheit macht nicht nur den Bauern zu schaffen. Jeder Regenguss hat etwas befreiendes, selbst wenn er Orkan ähnliche Züge trägt.

Über zwanzig Jahre hatte ich Ruhe vor der biologischen Emissions-Überempfindlichkeit. Heute, reifer und etwas gelassener, fängt der ganze Rotz wieder von vorne an. Ich investiere 10 Euro. Hausarzt.

“Haben sie Durchfall?”

“Nee!”

“Dann kann ich ihnen die Hand geben. Guten Tag Herr Capybara!”

“Hallo” erwidere ich. Ich habe ein Namengedächtnis wie eine Bockwurst. Gesichter angucken und irgendetwas sagt mir “Kenn ich” oder “Kenn ich nicht”. Mit dem Zuordnen der Leute wird es dann schon schwieriger: Job, Bekanntschaft, Ex?

Wenn das gelingt, könnte noch ein Vorname herausspringen. Spätestens beim Nachnamen ist Schluss. Um mir einen Alias zu merken, muss er schon außergewöhnlich sein. Ein prägnantes Beispiel:

– Pummelfee
– Körpergröße eines Standgebläses
– mag Fantasy fotografiert werden
– Model-Name “Sexy Lolita”!

Ich bin für die Einführung eines Nickname-TÜV’s!

Der Doc wühlt in meiner Akte rum. Ist nicht mehr so wie früher, wo die Schwester die Papiere vom Empfangsbereich in sein Sprechzimmer und anschließend wieder zurück schleppen durfte. Heute geht alles mit Computer. Der Schwester ist die fehlende Bewegung anzusehen.

Ruhe. Männer unter sich können schweigen. Wenn man sich kennt, genügt ein Blick und alles ist gesagt. Ich lege meinen rechten Arm frei. Kurz danach fängt das Blutdruckmessgerät mit dem Pumpen an. Zahlenvergleich mit meinem letzten Besuch.

“Brauchen sie neue Tabletten?”

“Dafür wäre ich nicht zu ihnen reingekommen. Da gehe ich zur Schwester.”

Rezepte ausstellen macht sie ohne dabei aufzustehen. Vom vielen Sitzen muss sie Hornhaut am Hintern haben. Wie ich. Ihr Gesäss sieht jedenfalls danach aus.

Gekonnt erzeuge ich das Pfeifgeräusch mit meiner imaginär tamponierten Nase.

“Oh, sie sind erkältet. Da kann ich nichts für sie tun. Warten, bis es vorbei ist. Medikamente? Das Zeug müssen sie selbst in der Apotheke kaufen.”

“Ich weiss.”

“Soll ich sie krankschreiben? Das kann ich tun.”

Wenigstens etwas, aber darum geht es mir nicht.

“Kopfdruck, mir ist übel, meine Augen schmerzen, na und die Nase ist zu. Laut Aussage meiner aktuellen Bettnachbarin schnarche ich wie ein junger Gott.”

Der Weißkittel lehnt sich in seinem Bürostuhl zurück und dreht sich zum Fenster.

“Ich hätte nie gedacht, dass ich hier in der Gegend mal mit AIDS in Berührung komme.”

Sein Gedankensprung ist mir zu heftig und kenne ihn eigentlich nur von Frauen. Ich ziehe es vor zu schweigen. Er ist der Doc und sitzt am längeren Hebel.

“Naja. Dann müssen wir mal einen Allergietest machen.”

“Kassenpatient. Ich habe keine Lust mich auf gut Glück bei dem Arzt ins Wartezimmer zu setzen und dort Stunden zu verbringen. Oder einen Termin in nem halben Jahr zu bekommen. Bis dahin hab ich den vergessen oder gehe sowieso nicht nicht.”

Ich bin erstaunt, dass meine Worte keinen Widerspruch hervorrufen. Der Hausarzt meines Vertrauens akzeptiert sie ohne zu murren. Freier Bürger nebst freier Meinung und Entscheidung?

“Ich schreib ihnen was auf!”

“Ich habe mir schon was aus der Apotheke geholt. Das Mittel aus der Werbung, was angeblich gut helfen soll. Danach spielt mein Kreislauf und Körper verrückt. Es juckt noch schlimmer als der Pollenterror selbst.”

Mir fehlt jedes Anzeichen eines Hypochonders. Ich kann mir weder Krankheiten, deren lateinischen Namen noch Medikamente merken. Wenn ich über solch ein Wissen verfügen möge, hätte ich Medizin studiert. Alles nur redundante Ballast. Der Berufsstand Arzt muss auch seine Daseinsberechtigung haben.

Der Doc hackt auf seiner Tastatur herum. Er schreibt wie ich im Stil des Zwei-Finger-Adler-Suchsystem.

“Sie können mir dann auch gleich noch meine Kreislauf-Pillen aufschreiben, die sind bald alle” unterbreche ich seine Schreibaktivitäten.

Er nennt mir aus seiner Datenbank relevante Namen, wenn der gut klingt, sage ich “Ja, die brauche ich auch.”

“Und sie nehmen alle Medikamente? Sie hatten ja Bedenken wegen der Anzahl der Präparate.”

Wieder ist so ein Moment eingetreten, wo mich seine Merkfähigkeit überrascht. Wenn es hoch kommt, sehen wir uns einmal im Jahr. Alles andere wickle ich mit der Hornhaut-Schwester im Vorzimmer ab. Dennoch erinnert er sich an unsere Diskussion vor ein paar Jahren.

Kreislauf gewinnt an Höhe und kollabiert, Spezialist stellt Medikamentenliste zusammen, ich soll außerdem abnehmen. Es dauert Monate, bis die Dosierung und mein Körper miteinander harmonieren. Vier Präparate und ein empfindlicher Magen machen mich stutzig. Der Doc meint, dass muss so sein. Dann noch das flüchtige, beinahe tödliche Intermezzo mit den Antidepressiva, worüber ich mich mittlerweile ausschweige.

“Joah, ich nehme sie alle.”

“Ihr Blutdruck ist auch bestens eingestellt.”

Der Doc steht auf, reicht mir die Hand: “Überlegen sie es sich noch einmal mit dem Allergietest. Wir reden beim nächsten Besuch noch einmal darüber.”

Ich bin mir sicher, dass es so sein wird. Doch weil ich alles, was mit Arzt, Praxis und Krankenhaus meide, wird es erst wieder die nächste Pollenterror-Saison sein, wo wir aufeinander treffen. Das passt!

Autor: makkerrony

Der Macher des Lichtbildprophet ist ein bekennender Autodidakt, lebt in Berlin und geht seit mehr als zwanzig Jahren dem Hobby (Analog-)Fotografie nach. Sein Dilettantismus hat gereicht, in fünfzehn Jahre ca. 150 Artikel für Fotofachzeitschriften und vier Bücher, alles auf Papier gedruckt erschienen, zu schreiben.