Das war 2020

Jippie, es ist November und die eigenen Glorifizierungen sprießen wie Pilze aus dem kreativen Torfnasensumpf Internet. Jahresendzeit ist nicht nur Weihnachten, auch die eigenen Katastrophen wollen wohlwollend besungen und schöngeredet werden. Als weltbekannter und allseits beliebter Lichtbildprophet muss ich in den Singsang unbedingt mit einstimmen.

Auf der Suche nach literarisch wertvollen Jahresrückblicken 2020 bin ich auf diese Meldung gestoßen: „ABGESAGT_Gynäkologischer Jahresrückblick 2020“. Das ist aber schade, habe ich mich doch so sehr darauf gefreut. Vor allem auf den gynäkologischen Jahreskalender 2021. Was für ein Mördergeschenk. Apropos Kalender: Gibt es noch die renommierte Kalenderschmiede für Arme Calvendo? Kalender mit ISBN? Das war ja der Renner unter den lahmen Ente. Jeder Knipser ein begnadeter Kalender-Maker. Mit Jury und Edel-Kuratoren. Genug Sarkasmus.

Was fällt mir zu 2020 ein? Zunächst das Klecksen. Ich lerne mir noch mehr Zeit zu nehmen, weil Farben Zeit zum Trocknen brauchen. Und manchmal braucht der Kopf auch Zeit zu verstehen, was da im Chaos des geklecksten Bildes Form annimmt. Seit 2017 kämpfe ich mit der Zeit. Mal mehr, mal weniger. Bei einem Abzug hat der Moment mit Licht das Bild gemalt. Beim Klecksen muss ich dem Zufall nicht nur Handlanger sein. Es geht vielmehr Ich ins Bild als mir lieb ist. Ich lerne: Solange ich nicht im Frieden mit dem Bild bin, darf ich nicht darüber reden. Das zerstört in mir Gedanken, Träume und Erinnerungen. Zeit. Ich habe Angst, dass ich viel vor, aber keine Zeit mehr habe.

Vom social distancing zum emotional distancing. Corona-COVID19-Shut-Lockdown macht Dinge möglich, die undenkbar und nicht machbar sind. Fast jeden Tag geht es für zwei bis drei Stunden ins Atelier. Frühsport für einen kreativen Kopf, Peloton für einen Dilettanten der vieles tut aber nichts richtig kann. Jetzt, am Ende des Jahres angekommen, bemerke ich, dass es menschenfotografisch einiges zu tun gab, das Experimentieren a la 2019 ganz schön in den Hintergrund getreten ist. Die offene Stelle Kreativität besetzt das Klecksen. Ich knipse 2020 wieder mehr. Drinnen und draussen. Bevorzugte Kamera: Lomo LCA. Selbst ein Shooting bei Ihr mit Morgensonne ist dabei und obwohl die Lomo zickt ist das mein Jahres-Highlight.

Ausgerechnet das social distancing Anfang 2020 zeigt nur kurz Wirkung. Der Spielraum aus Atelierzeit und Home Office sorgt für ein äußerst produktives Jahr. Sowohl an gemalten als auch Lichtbildern. Bei den Lichtbildern halte ich mich an altes ORWO-Fotopapier und dem Lithprint. Emotionale Achterbahnfahrt. Ich hätte nicht gedacht, dass das noch einmal geht. Im letzten Quartal des verrückten Jahres dann der Wurfanker und die Vollbremsung. Irgendwie haben sich einige Grenzen verschoben, viel zu weit verschoben.

Ein Kind soll nur noch einen Freund haben. Wegen Corona und der Pandamie. Wenn ich an die elitäre Helikopter-Brut denke, dann wären viele dieser verzogenen Bälger froh, wenn sie überhaupt einen Freund hätten. Spielte die Politik Anfang des Jahres Diktatur, wofür es viel zu wenig Widerwort gab, verzettelt sich Deutschland heute in Kleinstaaterei. So schlimm kann es also gar nicht mit dem „neuartig Corona-Covid19“ – Dingens sein.

Mein schönstes Erlebnis 2020? Ich rede mal nicht von schön. Das nachfolgende Erlebnis ist in meinen Augen für 2020 symptomatisch:

Seit ein paar Wochen wird wieder geheizt. Mein Atelier bleibt kalt. Ich baue das Ventil am Heizkörper ab, damit das erwärmte Wasser munter strömen kann. Ich drehe die Lüftungsschraube am Heizkörper auf und zapfe einen halben Liter Wasser ab. Keine Luft zu sehen. Ich bemerke, dass bei zugedrehtem Heizkörper der Zulauf zum Heizkörper warm wird. Öffne ich das Ventil, wird der bis dahin warme Zulauf kalt. Daraus schließe ich, dass das kalte Wasser des Rücklaufs in den Heizkörper und von dort in den Vorlauf drückt. Pauschal würde ich einfach mal die Sperrventile für den Strang überprüfen. Das überschreitet meine Kompetenz. Der Hausmeister möchte ja auch was zu tun haben.

Ich denke so bei mir, wenn ich dieses Problem habe, dann haben zehn weitere Mietparteien dasselbe Problem. Da ich nur stundenweise im Atelier bin, stört mich die Kälte nicht wirklich. Alles was mich nicht umbringt härtet mich ab. Shooting. Sie bittet mich, dass ich die Heizung aufdrehen möchte. Mir fällt es wie Schuppen aus den Augen. In den zurückliegenden Wochen hat kein Übermieter mal sein Smartphone gezückt und es dafür benutzt, wofür es einst geschaffen wurde. Zum Telefonieren. Hausmeister anrufen und das Problem schildern. Der kommt und hilft. Mein Atelier wäre warm und Sie müsste beim Barfuß-Shooting nicht frieren.

Damit Sie mir nicht wegrennt und das Shooting vielleicht platzt, werfe ich den Heizkörper in der Kochnische an und Sie darf ihre Socken anbehalten. Ich kann eben auch nett und zuvorkommend sein. Wenn ich will. Wenn ich möchte. Apropos Sie. Das ist bei mir die Universalfrau. 2020 aus der Situation heraus entstanden. Hier im Blog ein lyrisches Weib für alles und im realen Leben viel verschiedene Frauen im engeren Kreis.

Nächsten Tag klingle ich denn nun den Hausmeister selbst an. Eine halbe Stunde später steht der Fachmann für Heizungsangelegenheiten in meiner Hobbithöhle. Ich erzähle ihm, was ich bereits unternommen habe und wo ich die potentielle Lösung sehe. Er widerspricht mir, löst das Heizungsventil, klopft mit seiner Wapuza am Heizkörper rum und erzählt mir was vom defekten Rücklaufventil am Heizkörper. Wie ich finde eine gewagte Theorie und gegen den Heizkörper habe ich ja auch noch nicht geklopft. Den Lösungsansatz kenne ich nur vom Röhrenfernseher mit Röhrenelektronik.

Ich erzähle ihm von meinem Verdacht mit den Ventilen im Keller. Dort, wo ich in meinem Betonpalast lebe, gibt es Spinner, die gern mal Schieber spielen und einen Strang lahm legen. Der Hausmeister meinte darauf hin, dass sich noch kein Mieter wegen kalter Heizkörper gemeldet hat. „Wie auch“ erwidere ich. „Sie meckern lieber statt das Telefon in die Hand zu nehmen und selbst aktiv zu werden.“ Hausmeister kontert „Die Mieter rufen an, auch wenn nichts kaputt ist.“

Erfahrungswelt prallt auf Erfahrungswelt. Meckern und Besserwissen sind die neuen deutschen Tugenden der ehemals Dichter und Denker. Hausmeister diagnostiziert ein großes Problem, was nur eine Fremdfirma lösen kann. Wenigstens bestätigt er mir, dass der Rücklauf in den Heizkörper und dann das Wasser in den Vorlauf drückt. Im Gehen sagt mir Hausmeister, dass er trotzdem noch in den Keller herabsteigt und dort die Ventile checkt.

Während ich den Film von gestern entwickle, höre ich es am Heizungsstrang rumpeln. Aha, es klingt nicht ganz so wie alles in Ordnung. Dann ein Klingeln an der Höhlenpforte. Hausmeister erklärt mir etwas von einem kalten Verbindungsrohr, bewegten Ventilen und ich soll mal meine Heizkörper weit aufdrehen. Also doch etwas mit den Ventilen im Keller und telefonfaulen Mitbewohnern, die sicherlich in einer Onlinegemeinschaft bereits über die barbarische Kälte in ihrer Platte gemotzt haben. Ich drehe am Ventil und der Heizkörper tut das, was er soll. Heizen!

Mir begegnet es 2020 relativ häufig, dass meine Gedanken einfach unterdrückt und teilweise durch krude Theorien ersetzt werden. Ich versuche dabei ruhig zu bleiben und nicht wie ein Rohrspatz über die Dummheit meines Gegenübers zu schimpfen. Sehe ich mittlerweile so hilflos und senilkonfus wie Egon Olsen aus, dass ich einen Vormund brauche? Kann man nicht mehr zuhören, muss ich wie ein Bettler um Gnade flehen, damit der große Meister alles wieder heile macht? Warum hat Klugscheißen und Dummschwatzen Hochkonjunktur und die fachliche Kompetenz oder Erfahrung ersetzt?

Warum wird so selten darauf geachtet, was ich schreibe oder sage? Habt ihr keine Zeit richtig zu lesen oder zuzuhören? Ist es egal was ich sage oder schreibe, ihr tut sowieso was ihr wollt? Und mit dem was ihr wollt habe ich mich zu beugen? Könnt ihr euch vorstellen, dass ich auch etwas möchte? Genauso exklusiv, genauso rücksichtslos? Ich wollte auch exklusiv sein und finde mich auf einem Abstellgleis wieder, hänge in der Warteschleife eines Bots fest. Warum muss ich mich für meine Gedanken rechtfertigen oder diese laufend wiederholen? Ich möchte auch mein Ego leben …

Ich soll liefern. Sofort, besser gleich. Ich darf nicht fordern, auch wenn die andere Seite einen Fehler macht. Ich soll Verständnis haben, eine Entschuldigung annehmen und dann viel Geduld mitbringen. Oder die nächste Kröte schlucken. Die nächste Servicenummer anrufen. Was für eine Verschwendung. Am Ende darf ich meine negative Nutzererfahrung auskotzen und das, was ich in wütende Worte gefasst habe, interessiert keine Sau. Es ändert sich nichts daran, dass die größte Beteuerung, der treueste Schwur eigentlich Makulatur ist. Irgendwie ändert sich seit Jahrzehnten nicht viel in meinem Leben.

Die zurückliegenden Monate habe ich genutzt mich von einigen Dingen zu trennen. Dinge, die nur rumliegen und seit Jahren nicht mehr angefasst wurden. Und so nehme ich Abschied vom Trennbildfilm. Damit es auch wirklich endgültig ist, lege ich die Kamera auf das Konvolut Schwarzweiss- und Farbfilme oben drauf. 100 Euro Freundschaftspreis und alles ist weg. Die 600er beziehungsweise iType-Knipsmaschinen behalte ich noch. Vorerst. Noch ist Emulsionslift ein Thema für mich. Meine Gedanken gehen weiter: Es gibt einige Kameras, die ich abstoßen möchte. Aktuell nutze ich die Nikon’s und meine Lomo LCA. Eine Lomo LCA habe ich sogar verschenkt. Ballast, alles Ballast und der kann auch belasten. Noch ist die Werkzeugkiste prall gefühlt und wer zuerst frag, bekommt zuerst.

Wie weiter? 2021 soll ballastfrei werden. Muss frei von den Dingen sein, deren Erhalt sich nicht lohnt. Der Kopf muss wieder leer und damit frei sein. Alles andere ergibt sich dann von allein …

Autor: makkerrony

Makkerrony, der Macher des Lichtbildprophet, ist ein bekennender Autodidakt, lebt in Berlin und geht seit mehr als zwanzig Jahren dem Hobby (Analog-)Fotografie nach. Sein Dilettantismus hat gereicht, in fünfzehn Jahre ca. 150 Artikel für Fotofachzeitschriften und vier Bücher, alles auf Papier gedruckt erschienen, zu schreiben. Ein Mensch behauptete mal, Makkerrony sei ein guter Fotograf, hat allerdings einen denkwürdigen Geschmack. Jemand anderes meinte, Makkerrony könne einen Haufen Hundescheisse fotografieren und es sehe gut aus. Ein Model lehnte die Arbeit mit dem Lichtbildprophet ab, weil seine Bilder so aussehen, als müsse sich das Model anstrengen.