Warum ich meinen eigenen Stil erfinden musste

Blicke ich zurück in meine Kindheit, da waren die Schinken der Berg- und Tallandschaften, röhrende Hirsche oder das Segelschiff in rauer See. Die Motive waren und sind auch heute noch für mich grauenhaft. Was mich aber an den Meisterwerken aus einer Hinterhof-Massenproduktion fasziniert, ist die unruhige Malweise im Detail und doch das erkennbare Motiv auf Distanz. So grausam kitschig das Motiv auch war und ist, ich konnte mir es trotzdem ansehen. Im Bezug auf solch Wohnzimmer-Meisterwerke sprach Horst Lichter in ‚Bares für Rares‘ von der Stilrichtung des Depressionismus und der Begriff trifft es auf den Kopf: Im biederen Ambiente an die Wand – über der gemütlichen Couch – genagelte Sehnsüchte!

Bei manch moderner, in den sozialen Sammelpunkten hochgelobter Arbeit, schmerzt mich der ebenso kitschige wie klischeebehaftete Inhalt umso mehr. Pseudo HDR, explodierte Farbeimer und eine unerträgliche Schärfe sind nicht nur eine Beleidigung menschlichen Sehens, dieser Schund und Schmutz der Fotografie ist eine regelrechte Vergewaltigung des Betrachters. Ich sehne mich nach der Imperfektion, danach dass der sogenannte Fotograf bereit ist, die brachiale Präzision und nahezu unendlich steile Schärfe aufgibt. Der Vortänzer einer Meisterklasse, ohne selbst Lehre und Lehrbefähigung zu besitzen, soll nicht dem Betrachter möglichst alles vordenken, nur weil dieser keine Zeit zum Sehen und Denken hat. Kunst lebt von Emotionen, die gibt es jedoch nicht als Instantsuppe ohne kochendes Wasser und mit dem Schneebesen aufgeschlagen. Kunst muss Fragen stellen, muss sich deshalb aller möglichen Facetten bedienen.

Bewege ich mich in den Kreisen der modernen Fotografie, dann treffe ich auf zuviele Selbstdarsteller. Jeder ist vernetzt und jeder hat sein Kurzzeit-Business. Zum Beispiel ein Kalender, ein Buch oder ein Magazin. Künstler lassen sich heute via Crowdfunding auf Patreon & Co. von ihren Voyeuren querfinanzieren. Für einen Euro pro Monat sehe ich die Nippel der Selbstdarstellerin, für 10 Euro macht sie ein Video für mich und für 25 Euro darf ich ihr in den geöffneten Schritt gucken. Modelle gehen auf große Reisetour. Die Route bestimmen die Fotografen, die bereit sind die Reisekosten zu übernehmen. Zugegeben, hier und da funktioniert das Finanzierungsmodell, doch ohne Süßholz, tonnenweise Honig und Zucker und die eigene Selbstaufgabe ist es eine Totgeburt. Letztlich ist es ein kurzes Rudelschießen, ein fotografischer Quickie mit der Schönen. Wenn das man nicht Kunst ist! Ich würde es ja eher Prostitution nennen. Für beide Seiten.

Wenn ich sehe, für was welche Preise aufgerufen werden, dann wünsche ich mir den Tatbestand des Wuchers zurück. Wie kann man für Nichts so dick auftragen? Da wird mit Agent/In und Agentur gepost, man kann ja erst einmal behaupten und dann weitersehen. Ich möchte nicht um Kunst verhandeln, nicht um den Preis feilschen. Entweder es passt oder es passt nicht. So habe ich immer agiert, war ich auch selbst der Käufer. Und so bin ich vorgegangen, gab es Interesse an meiner Arbeit. Kunsthandel ist kein türkischer Basar. Was ist Ware allgemein Wert, wenn um sie gehandelt werden kann? Nichts! Kunst ist zum einen Teil Ware, zum anderen aber auch ein ideeller Wert. Und gerade dieser Anteil lässt sich, auch für mich, schwer bemessen. Sehe ich, dass maschinelle Lieblos-Kopien zum Preis des Unikats vertickt werden, dann ist kein Künstler sondern ein übler Geschäftemacher am Werk.

Das Internet bringt nicht die Internationalisierung der Kunst. Kunst ist immernoch lokal. Der Mensch muss Kunst in seiner Gesamtheit erfahren, selbst wenn es sich um digitale Kunst handelt. Das Gerät, mit dem wir ins Internet gehen, ist nur ein Schlüssel zum Tor des Netzwerks. Unsere Sinne werden nicht gefordert, wir erliegen – unserer Sinne beraubt – zu schnell der Manipulation. Unsere restlichen Sinne verkümmern, weil wir einem Bild und einem Text glauben. Wir glauben der Beteuerung nach Wahrheit, weil wir auf eine Frage dem allerersten Suchangebot vertrauen, auch wenn es selbst als Werbung markiert ist. Kritisches Hinterfragen? Es steht doch da, dass es so und nicht anders ist! Wie mit dem Osterhase und dem Weihnachtsmann. Sie gibt es doch auch. Oder etwa nicht?

Modelle, Modelle. Wer nichts kann, schafft es wenigstens ein Modell zu sein. Zumindest Webcam-Modell. Das sollte jede Schönheit machbar sein. Posen wie die Halbgroßen der Szene, der Freund fotografiert es, obwohl man im Profil ‚untervögelter Single‘ ist. Reisekader-Modell, ich sprach schon darüber. Von der Bewegungslegasthenikerin bis zur Scheininteressierten, das Spektrum ist individuell und breit gefächert. Nur nicht aktiv. Was erwarten die Grazien? Haben sie mal in den Spiegel geschaut? Sie sind so leidenschaftlich leidenschaftslos. Genau wie viele Fotografen, die viel lieber der Technik als dem Sujet huldigen. Es geht ihnen nicht um Sinne und Emotionen, sie wollen nur zeigen, hier und da dann bitte auch mal mit anfassen und dafür irgendwie noch Kohle sehen. Wo bleibt da die eigene Zufriedenheit, das Gefühl, etwas Bleibendes geschaffen zu haben? Der Deckmantel der Kunst bleibt ja, wohl der Moral wegen?

Ich durfte hinter zuviele Fassaden blicken und habe nie die faszinierende Scheinwelt der Protagonisten vorgefunden. Oft waren es arme Schlucker, bemitleidenswerte Mitmenschen, am Rande der Existenz. Penner, Menschen kurz vor der Obdachlosigkeit. Von ihren Familien und Angehörigen allein gelassen. Menschen mit Langeweile, die nach Aufmerksamkeit suchen. Leute ohne Ausbildung oder die verschweigen, dass sie ihre Ausbildung nie beendet haben. Verkrachte Existenzen, von einer Pleite in die nächste schlitternd. Hauptsache das Wort und eigene schein-öffentliche Auftreten im Internet ist betont laut sowie strotzend vor Selbstbewusstsein. Diese Narren! Das kann ich auch! Es ist diese Scheinwelt wie in den Schinken an der Wohnzimmerwand: Ein Vorspiegeln falscher Tatsachen, ein Hoffen und Wünschen, während die Bildnisse der Familie im dunklen Flur ihr Dasein fristen.

Fotodepressionismus, gern auch Foto-Depressionismus: Jeden Tag wird mir vorgeführt, dass es euch Helden des geschwollenen Mundwerks nicht um das Malen mit Licht geht. Ihr gebt mir vor, was ich über euch zu sagen habe. Ihr wollt nicht, dass ich eigenständig denke. Denn wer denkt, der könnte euch Halbheroen kritische Fragen stellen. Ihr nehmt mir mit euren Bildern meine Gedanken weg. Ihr tötet mit euren abscheulichen Bildern meine eigenen Gedanken. Deshalb will und kann ich euer Unheil nicht sehen. Ich will das chaotische Unheil im Detail, den klareren Blick mit Abstand. Es gibt immer Etwas zwischen schwarz und weiß, zwischen Null und Eins. Fröhlich um fröhlich. Bunt im Schwarzweiß. Es gibt ein anderes Sehen, euer (Foto-)Realismus ist nicht meine Sichtweise. Fokussiere ich mich auf einen Punkt, ist der Rest herum nur eine Randnotiz, um die ich des Blicks zuvor weiß. In meinen Bildern steckt mehr wahres Sehen als die Masse glaubt in Worten wahrzunehmen.

Brille ab!

Im übrigen: Das Stilistische gab es schon einmal, etwas milder angewandt und man nannte es Pictorialismus!
Und: Wer in meinem Fotodepressionismus nicht die Eulenspiegelei und das Possenspiel erkennt, der ist selber Schuld und sollte besser zum Lachen in den Keller gehen.

Autor: makkerrony

Der Macher des Lichtbildprophet ist ein bekennender Autodidakt, lebt in Berlin und geht seit mehr als zwanzig Jahren dem Hobby (Analog-)Fotografie nach. Sein Dilettantismus hat gereicht, in fünfzehn Jahre ca. 150 Artikel für Fotofachzeitschriften und vier Bücher, alles auf Papier gedruckt erschienen, zu schreiben.